Ein kleiner Platz in einer der 1000 Favelas von Rio de Janeiro, nach Sonnenuntergang: Vor zwei riesigen Bassboxen spielt ein DJ ungeschliffene Beats direkt aus dem Drumcomputer. Darüber rappt ein MC mit heiserer Stimme. Die jungen Leute haben sich schick gemacht und tanzen bis tief in die Nacht. «Baile» heisst so eine Party. «Es sind Partys für Leute, die es sich nicht leisten können, in Clubs oder Diskotheken zu gehen. Also kommt die ganze Nachbarschaft auf den Strassen zusammen», erzählt der Berliner DJ und Produzent Daniel Haaksman, der seit zehn Jahren von Baile Funk infiziert ist.
Baile Funk ist in den Favelas von Rio de Janeiro entstanden: Mitte der 1970er-Jahre haben dort DJs Funk aus den USA aufgelegt. Aber weil niemand die englischen Texte verstand und die Musik fremd erschien, kreierten sie ihre eigene Funk-Spielart: in portugiesischem Slang und mit lokalen Rhythmen.
Spiegel des Favela-Alltags
Heute ist Baile Funk mit schweren Hip-Hop-Bässen angereichert und splittet sich in unzählige Untergenres auf. Am meisten Furore macht der «Funk proibidão» mit seinen sexistischen und gewaltverherrlichenden Texten. Etwas milder sind der «Funk Romantico» oder der religiöse Funk der evangelikalen Missionen und der gesellschaftskritische Funk.
Der DJ und Produzent Daniel Haaksman findet, dass Baile Funk eine Musik ist, die die Realitäten der Favelas abbildet: «Funk ist für die Identität und Artikulationsfähigkeit der Favelabewohnerinnen und -bewohner sehr wichtig. Denn die Musik ist wie ein Radiokanal, über den die Leute das kommunizieren können, was sie in ihrem Alltag gerade beschäftigt.»
Protestsongs gegen die WM
Derzeit verarbeiten die Funkeiros – so heissen die Baile Funk MCs und DJs – die Fussball-WM in ihren Texten. In seinem Lied «Se O Governo não muda, o povo tem que muda» findet MC Theus scharfe Worte und ruft auf zum Widerstand: «Auf, Brasilien, lasst uns vereinen zum Protest. Wenn die Regierung sich nicht ändert, wird das Volk sie ändern.» In den Strophen kritisiert er, dass für die WM Milliarden ausgegeben werden, während Schulen verfallen und Kinder auf der Strasse unterrichtet werden müssen.
MC Theus rappt weiter, dass das Werk der UPP in den Favelas nur Schaden anrichte. Die UPP sind Spezialeinheiten, welche die brasilianische Polizei in einigen Favelas stationiert hat um sie zu «pazifizieren». Diese Kampagnen im Namen des Friedens lassen immer wieder mit Verstössen gegen die Menschenrechte von sich hören, erzählt Haaksman: «Die Favelas waren lange autonome Zonen, die von Drogengangs regiert wurden. In einigen Favelas konnte die UPP das nun aufbrechen. Aber viele Polizisten sind korrupt und haben ein auf Willkür basierendes Regime etabliert, ähnlich wie die Drogengangs.»
Abgebrochene Partys
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Unter der neuen Macht in den Favelas leidet auch der Baile Funk. Die UPP stört sich an der Spontanität, mit der die Feste stattfinden, wie der UPP-Offizier Colonel Rodrigues im Dokumentarfilm «Funk is a Culture – Music Politics in Rio de Janeiro» erzählt.
Also setzen die Friedenseinheiten Sperrstunden durch, brechen Partys ab oder verlangen Lizenzen. Oder sie verhindern, dass die Bailes überhaupt starten, erzählt Haaksman: «Zum Beispiel lassen sie die Trucks, die die mobilen Soundsysteme in die Favela transportieren, einfach nicht durch die Checkpoints.»
Kompromisse mit der Polizei
Zwar treten die Repressionen im Zuge der WM verstärkt auf. Neu sind sie aber nicht. Wie auch früher der Samba – auch ein Sound der Favelas – wurde Baile Funk immer wieder verboten. Wegen der Gewalt auf den Bailes, den Drogen oder den gewaltverherrlichenden Texten.
Vor neun Jahren vereinbarten aber MC Catra und DJ Marlboro mit der Polizei einen Kompromiss und verhalfen ihrer Musik so offiziell in die Legalität. Aber was bleibt, ist die Resolution 013, eine Gesetzesvorschrift, die die Rahmenbedingungen wie Sicherheit und Toiletten für kulturelle Anlässe definiert. Für die UPP genügt sie als rechtliche Grundlage, um Bailes ohne weitere Begründung abzubrechen.
Der Sound der Armen
Was bleibt, ist auch die Stigmatisierung des Baile Funk: Viele weisse Brasilianerinnen und Brasilianer der Mittelschicht rümpfen noch heute die Nase. Daniel Haaksmann erklärt sich das so: «Baile Funk ist eine ständige Erinnerung, dass es in Brasilien eine grosse Ungleichheit und Armut gibt. Das frustriert viele Leute und schlägt in Aggressionen gegen diese Musik um.»
Trotzdem erobert der Favela-Sound immer mehr auch die Stadtviertel der Mittelschicht und Oberschicht. Haaksmann weiter: «Tagsüber schimpfen sie über Funk und grenzen sich ab, abends tanzen sie dazu. Denn egal auf welche Party man in Rio heute geht, am Ende läuft immer Baile Funk.»
Einflüsse bis in die Schweiz
Für die Anerkennung des Baile Funk hilft auch sein internationaler Erfolg: Produzenten wie Diplo oder Daniel Haaksman haben ihn auf die Tanzflächen der USA und Europas gebracht. Über YouTube und Soundcloud landet die Musik in den Autoradios und Handys der ganzen Welt und beeinflusst die heutige Popmusik – von M.I.A. bis Black Eyed Peas. Auch in der Schweiz: Im letztjährigen Sommerhit «Estavayeah» der Berner Band Jeans For Jesus sorgen nicht etwa Samba oder Bossa Nova für Strandfeeling – sondern Baile Funk.