Der blau-weisse Triebwagen der Bäderbahn hält neben tristen Mietshäusern. Mit Graffitis besprayt, vom Vandalismus heimgesucht, die Fassaden blättrig. Knapp 300 Einwohner zählt Peenemünde, eine Gemeinde am nordwestlichen Zipfel der Ostsee-Insel Usedon. Die Abwanderung ist unaufhaltsam.
Dabei war und ist Usedom ein beliebtes deutsches Urlaubsziel – das «Nizza der Ostsee». Gäste aus dem In- und Ausland kommen in die «Kaiserseebäder» Heringsdorf, Bansin und Ahlbeck. Doch in Peenemünde ist davon nicht viel zu spüren: ein Ort ohne Baedeker-Stern und boomende Tourismusindustrie.
Erster Flugkörper im Weltall
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Zur NS-Zeit stand Peenemünde im Fokus: 1936 begann man hier mit dem Bau des ersten Grossforschungsprojektes der Welt, einem der modernsten Technologiezentren. Zeitweise arbeiteten hier hermetisch abgeschirmt 15'000 Menschen, vor allem Zwangs- und Fremdarbeiter. Es gab eine eigene Werksbahn, die im Fünf-Minuten-Takt fuhr.
Wissenschaftler entwickelten in dieser Heeresversuchsanstalt die so genannte «Vergeltungswaffe 2», wie sie in der Propagandasprache zynisch hiess. 1942 wurde von Peenemünde aus zum ersten Mal in der Geschichte erfolgreich ein Flugkörper in den Weltraum geschossen. Während des Testflugs erreichte die Rakete eine Höhe von 84.5 Kilometern und 4-fache Schallgeschwindigkeit. Die A4 (das vierte Aggregat in der Raketen-Entwicklungsserie, später auch V2 genannt) konnte Sprengstoff transportieren und gilt als Vorläufer aller militärischen und zivilen Trägerraketen.
Rund 3000 V2 und 22'000 der Vorgängerversion V1 wurden auf Städte in Belgien, England und Frankreich abgefeuert. Den Kriegsverlauf konnten die vermeintlichen Wunderwaffen aber nicht beeinflussen. Und mehr Opfer als dieser verbrecherische Einsatz durch den NS-Staat forderte die Produktion der Raketen: Über 20'000 Menschen, vor allem Zwangsarbeiter, kamen dabei ums Leben.
Wernher von Braun: vom NS zur NASA
Verantwortlich war der 1912 geborene Physiker Wernher von Braun. Als technischer Direktor besuchte er das KZ Buchenwald, um dort Arbeitskräfte persönlich auszusuchen. Fotos zeigen ihn mit der schwarzen Uniform der SS-Reiterstaffel. «Er war ein Nationalist und Antikommunist, und er hat wie viele andere mitgespielt und weggeguckt», so das Urteil des US-Forschers Michael Neufeld.
Die Amerikaner verhafteten von Braun und andere Wissenschaftler kurz vor Kriegsende und brachten sie für eigene Raketenprojekte in die USA. Moralische Bedenken hatte die US-Regierung keine, angesichts des Kalten Krieges stellte niemand Fragen nach von Brauns Mitverantwortung für das NS-Regime. Sein Wissen und seine Fähigkeiten waren zu kostbar, das wollte man nicht gefährden. Zumal auch in den USA eine Verbindung von ziviler und militärischer Raketennutzung bestand.
Von Braun war in den USA verantwortlich für die Entwicklung der Saturnraketen. 1969 brachte eine Saturn 5 die Apollo-11-Kapsel auf den Weg zum Mond. Von Braun wurde zum Nationalhelden und stellvertretenden NASA-Direktor.
Industriedenkmal und Museum
Heute befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Heeresversuchsanstalt das Historisch-Technische Museum (HTM). Gleich am Museumseingang steht eine zigarrenförmige V2-Rakete. Museumsbesucher fotografieren sie mit ihren Digitalkameras. Jährlich kommen über 200'000 Besucher, seit der Eröffnung 1991 waren es über fünf Millionen, mehrheitlich ältere Menschen. Der Museumsführer und Historiker Hans Knopp sagt: «Es sind besonders Technikfreaks, die hier den Geburtsort der Raumfahrt erleben wollen. Unser Job ist es, sie auch mit anderen Inhalten zu konfrontieren.»
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Peenemünde sei ein «janusköpfiger Ort des technischen Fortschritts», der gleichzeitig von Weltmachtstreben und Menschenverachtung des NS-Regimes zeuge, erklärt Museumskurator Christian Mühldorfer-Vogt. Im kollektiven Gedächtnis ist Peenemünde allerdings kaum als militärisches Grossprojekt präsent – viel eher als erste Station auf dem Weg zum Mond. In den 1990er-Jahren warb die Gemeinde damit, dass hier das Tor zum Weltraum gestanden habe. «Die Wiege der Raketen wurde den Opfern zum Sarg», mahnt heute ein Schild vor der Kapelle gegenüber dem Museumseingang. Eines der wenigen Gebäude aus alten Tagen, das überlebte.
Munitionsverseuchtes Gebiet
Besucher können heute auf einem Rundweg zu Fuss, mit dem Fahrrad oder dem Auto 17 Stationen auf dem 25 km² grossen Gelände besichtigen. Tafeln informieren über die Bedeutung und Geschehnisse an den jeweiligen Punkten. Etwa das Sauerstoffwerk, das Konzentrationslager Karlshagen 1, Bahnsteige der Werkbahn und Teile des Flugplatzes – Orte, die lange Zeit nicht öffentlich waren. Erst dauerte, bis alle Minen und Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg beseitigt waren.
Das Herzstück des HTM ist die Turbinenhalle des ehemaligen Kraftwerkes. Es wurde zwischen 1939 und 1942 erbaut, um den ungeheuren Energiebedarf der V2-Produktion zu decken. Heute beherbergt das gigantische Gebäude eine ständige Ausstellung mit Dokumenten, Filmen und Fundstücken, Rauminszenierungen, Musik- und Intervieweinspielungen – eindrucksvoll und informativ. Sie dokumentiert insbesondere auch den verhängnisvollen Pakt zwischen nationalsozialistischen Wissenschaftlern und Militärs.
Die Raketenproduktion wäre ohne das nationalsozialistische KZ-System niemals möglich gewesen. In der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 beschädigten Bomber der Royal Air Force die Produktionsstätten in Peenemünde. Die Fertigung der V1 und V2 wurde in das Aussenlager Dora-Mittelbau bei Nordhausen verlegt. Dort starben in den unterirdischen Stollen tausende Häftlinge. Die Ausstellung thematisiert auch, wie es dazu kommen konnte, dass sich die alliierten Siegermächte ebenso skrupellos der deutschen Ingenieure um Wernher von Braun und ihrer Forschungsergebnisse bemächtigten.
Faszination und Gewalt
Die Faszination, die von Peenemünde ausgeht, sei ungebrochen erzählt Kurator Mühldorfer-Vogt. Ein Publikumsmagnet, ein Mythos, aber auch ein Lernort mit ganz besonderen Herausforderungen. Zum Beispiel habe man eine sogenannte «Walter Schleuder» erworben, ein mobiles, 48 Meter langes Katapult zum Abschuss der V1. Das Kriegsgerät wurde restauriert und ausgestellt. Aber damit fingen die Probleme erst an: «Weil es natürlich nicht darum geht, die Schleuder und V1 als Waffe zu glorifizieren. Wir haben einen Bildungsauftrag, wir betreiben keine Sensationsheischerei», so Mühldorfer-Vogt.
Am Ende der Ausstellung betritt der Besucher einen fast völlig verdunkelten Raum. In der Mitte liegen unter einem Lichtkegel Schutt, Bomben- und Raketenteile. Der Raum symbolisiere, dass der Krieg nach Deutschland und Peenemünde zurückgekehrt sei, sagt Museumsführer Hans Knopp: «Was wir am Anfang der Ausstellung gezeigt haben, war die Zerstörung Londons oder anderer Städte durch die V2. Bei Kriegsende liegen auch die deutschen Städte in Schutt und Asche. Und auch von Peenemünde ist nichts anderes übriggeblieben als diese Trümmer.»