Zeynep Gedizlioğlu braucht keine Stille, um zu komponieren. Im Gegenteil: Sie sucht sich Orte zum Arbeiten aus, bei denen sie umgeben ist von Alltagsgeräuschen und Stimmen, wie zum Beispiel das Café um die Ecke in Berlin Kreuzberg.
Denn die Komponistin wird von Tinnitus-Tönen geplagt, und in einer lebhaften Umgebung kann sie das Pfeifen im Ohr besser ignorieren. In einigen ihrer Stücke verarbeitet sie diese Störgeräusche musikalisch. «Auf diese Weise sind die Tinnitus-Töne keine Feinde mehr. Sie machen mir das Leben zwar schwer, aber sie sind jetzt ein Teil von mir. Diese Einstellung hat mir geholfen», sagt Zeynep Gedizlioğlu.
Aus Istanbul nach Saarbrücken und Berlin
Zeynep Gedizlioğlu ist 1977 in Izmir geboren und besuchte die Musikhochschule in Istanbul. Vor 16 Jahren verliess sie die Türkei, um ihr Kompositionsstudium fortzusetzen, zuerst in Saarbrücken, dann in Strasbourg und Karlsruhe. Seit gut fünf Jahren lebt sie in Berlin. Sie erhielt Stipendien und namhafte Preise, wie 2012 den Komponisten-Förderpreis der Ernst von Siemens-Stiftung.
Die 40-jährige Komponistin steht mitten im Leben: Viele Kompositionsaufträge, konzentrierte Arbeit, Proben, Reisen an Festivals. Wenn Zeynep Gedizlioğlu komponiert, dann strömen all diese Erfahrungen in ihre Musik hinein. Ihre Werke sind gut konstruiert, gut instrumentiert, sie versteht ihr Handwerk.
Aber da ist noch mehr: eine Dringlichkeit und Intensität, auch etwas Fragiles, – ein persönliches Engagement. Tatsächlich verarbeitet Zeynep Gedizlioğlu in ihren Kompositionen, was sie ganz privat betrifft, und dazu gehören auch die politischen Entwicklungen in ihrer Heimat Türkei. In der Energie ihrer Stücke, die manchmal wie heisses Eisen glühen, zeigt sich diese Spannung aus individuellem Erleben und gesellschaftlicher Auseinandersetzung.
Ihre Musik ist nicht absichtlich politisch
Ist Zeynep Gedizlioğlus Musik also politisch? «Nicht explizit», sagt die türkische Komponistin, «bei einigen Stücken ist es einfach passiert, dass sie im Laufe des Komponierens eine politische Dimension gewonnen haben, ohne dass ich es beabsichtigt habe.»
So bei «Durak». Während Zeynep Gedizlioğlu 2013 in Berlin gerade dabei ist, dieses Orchesterstück zu komponieren, bricht in Istanbul die grosse Protestbewegung rund um den Gezi-Park aus. Zeynep Gedizlioğlu ist wie gelähmt, kann nicht mehr fokussiert weiterarbeiten. Sie überlegt, den Kompositionsauftrag abzusagen und in Istanbul die Demonstrierenden zu unterstützen.
Mit Kopf und Herz bei den Protesten in der Türkei
Doch dann entscheidet sie sich fürs Weiterkomponieren. Eine ambivalente Situation: Sie ist weit weg von den Protesten in ihrer Heimat, aber mit dem Kopf und dem Herzen doch mitten drin. Das hat das Stück geprägt. Es ist eine Musik voller unterschwelliger Bedrohung, unterbrochen von brüchigen, harten Schlägen.
Trotzdem ist die Komposition kein plakativer Kommentar zur politischen Aktualität. Vielmehr geht es der Komponistin darum, ihre inneren Konflikte, die durch die Gezi-Proteste ausgelöst wurden, so ehrlich wie möglich zum Ausdruck zu bringen – in der Hoffnung, dass sich das auch dem Publikum vermittelt.
Ihr eigener Therapeut
Diese aufrichtige, authentische Art im Umgang mit sich und ihrer Umwelt fliesst unmittelbar in Zeynep Gedizlioğlus Musik ein: «Komponieren bedeutet eine ständige Reflexion über das, was ich denke und fühle. Es ist ein bisschen so, als wäre man sein eigener Therapeut. Das finde ich spannend, denn ich habe ja nur mich selbst als Filter und als Spiegel. Ich kann die Welt nur durch mich selbst verstehen und deswegen möchte ich diese innere Quelle wahrnehmen und ernstnehmen.»
So erlebt ihr Publikum eine expressive, spannungsgeladene und vom Leben durchpulste Musik. Eine Musik, in der mediterrane Farbigkeit und experimentelle Klangsuche, Reflexion und Intuition aufeinander treffen. Zeynep Gedizlioğlus Kompositionen sind ein überzeugendes Beispiel für gelebte musikalische Diversität.