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Evolution Warum wir Menschen so lang Kinder sind

Was unterscheidet uns Menschen von den anderen Menschenaffen? Der aufrechte Gang zum Beispiel, oder das grosse Gehirn. Und: Die längere Kindheit. Eine neue Studie könnte erklären, warum unsere Kindheit im Verlauf der Evolution länger wurde.

Solange uns Erwachsene mit Nahrung versorgen, sind wir abhängig von ihnen – und damit Kinder. In dieser Zeit wachsen wir Menschen heran. Und wir lernen viel: Sprache, Sozialverhalten und komplexes Denken etwa.

Bei unseren nächsten noch lebenden Verwandten, den Menschenaffen, ist das anders. Kaum stillen ihre Mamas sie ab, müssen sie ihre Nahrung selbst beschaffen. Da bleibt viel weniger Zeit, um zu lernen. Der Schweizer Paläoanthropologe und emeritierte Professor Christoph Zollikofer drückt es so aus: «Ein Schimpanse hätte gar keine Zeit, in die Schule zu gehen».  

Christoph Zollikofer

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Christoph Zollikofer ist Paläoanthropologe und emeritierter Professor der Universität Zürich (UZH). Gemeinsam mit der Forscherin Marcia Ponce de León begründete er an der UZH das Forschungsfeld der computergestützten Paläoanthropologie.

Laut einer weit verbreiteten Theorie wurde die Kindheit der Menschen länger, weil unser Gehirn im Verlauf der Evolutionsgeschichte wuchs. Dieses starke Wachstum hat so viel Energie benötigt, dass andere Wachstumsprozesse langsamer wurden. So zumindest die Theorie. Eine neue Studie von Christoph Zollikofer stellt diese nun infrage. 

Der Homo von Dmanisi

Der Schweizer Paläoanthropologe und sein Team haben ein ganz spezielles Fossil untersucht. Es ist der Schädel eines Heranwachsenden. Mit etwa elf Jahren ist er gestorben. Vor 1,77 Millionen Jahren, im heutigen Dmanisi in Georgien. Es ist eins der ältesten Fossilien der Menschengattung Homo, das Forschende ausserhalb Afrikas je ausgegraben haben. 

Drei Röntgenansichten eines Schädels mit eingefärbtem Gebiss
Legende: Der Fund ist laut Christoph Zollikofer einer der vollständigsten Schädel eines Frühmenschen, der je gefunden wurde. Es ist einer von fünf fossilen Schädeln, die in Dmanisi ausgegraben wurden. Vincent Beyrand/Paul Tafforeau, ESRF Grenoble

Zollikofer wollte wissen, ob der Mensch damals bereits eine lange Kindheit hatte. Dafür untersuchte er die Zähne des Fossils. Diese verraten viel über die Kindsentwicklung. Christoph Zollikofer zählte quasi die Tagesringe der Zähne – ähnlich wie bei Bäumen die Jahresringe. Und stellte fest: «Das Fossil von Dmanisi hat erstaunlicherweise ein total modernes Muster im Ersatz der Milchzähne durch die Erwachsenenzähne und in der Reifung der Erwachsenenzähne».

Die Zahnentwicklung des Frühmenschen ähnelt also der von heutigen Jugendlichen. Ein eindeutiger Hinweis darauf, dass unsere Vorfahren vor 1,77 Millionen Jahren schon eine lange Kindheit hatten. Gleichzeitig belegt der Schädel des Frühmenschen, dass sein Gehirn noch relativ klein war. Das spreche gegen die Theorie, dass unsere Kindheit im Verlauf der Evolution wegen unseres grossen Gehirns länger wurde, so Zollikofer.

Die Gemeinschaft macht’s möglich 

Vielmehr hätte das gesellschaftliche Zusammenleben der Frühmenschen zu einer längeren Kindheit geführt, vermutet der Forscher. Denn ein anderes Fossil aus Dmanisi starb als alter, zahnloser Mensch. Es ist wahrscheinlich, dass dieser von seinen Mitmenschen mit Nahrung versorgt wurde. Vielleicht mit dem Ziel, dass der Greis oder die Greisin beim Aufziehen der Kinder mithilft.

Es wäre also denkbar, dass es unter anderem die Grosseltern waren, die es den Kindern erst überhaupt ermöglichten, sich mehr Zeit für das Heranwachsen zu lassen. Das sieht auch Debbie Guatelli-Steinberg so. Sie ist Professorin für biologische Anthropologie an der Ohio State University in Ohio, USA. Sie findet allerdings auch, dass es möglich wäre, dass die sozialen Strukturen nur ein Faktor waren: «Ich denke, es ist vielleicht noch zu früh dafür, komplett auszuschliessen, dass das Gehirnwachstum eine Rolle gespielt hat.»

Christoph Zollikofer ist zwar emeritiert – aber er bleibt dran am Thema. Mit langem Atem. Allein dieses Forschungsprojekt dauerte rund 20 Jahre.

Wissenschaftsmagazin, 16.11.2024, 12:40 Uhr

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