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Hat die Wissenschaft den Klimawandel unterschätzt?
Aus Echo der Zeit vom 01.09.2023. Bild: Ric Tapia via AP
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Klimaerwärmung Geht die Klimaerwärmung rascher voran als gedacht?

Hitzewellen, Rekordschmelzen, Überschwemmungen – eine Hiobsbotschaft jagt die nächste. Hat die Wissenschaft den Klimawandel unterschätzt?

«Die Extremwetterereignisse, die wir in diesem Jahr sehen, diese sind nicht überraschend», sagt Friederike Otto, Klimawissenschaftlerin am Imperial College in London. Die Klimawissenschaft habe diese Entwicklungen ziemlich exakt vorausgesagt. Aber: «Wir haben unterschätzt, wie verletzlich unsere Gesellschaft ist, also wie sehr diese Extremwetterereignisse uns und unserem Ökosystem schaden», sagt Otto.

Dass bereits mit 1,5 Grad Erwärmung folgenschwere Schäden für die ganze Welt drohen und nicht erst ab 2,5 Grad oder mehr, wie früher gedacht, in diesem Punkt habe sich die Wissenschaft lange getäuscht.

Berichte des Klimarates eher konservativ

Kommt hinzu, dass die wissenschaftlichen Berichte des Weltklimarates IPCC zurückhaltend sind. Es werden zwar regelmässig die wichtigsten Studien zusammengetragen und diskutiert. In den Bericht schafft es dann aber nur, was wissenschaftlich mit zahlreichen Studien untermauert ist.

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Klimawandel: Schneller als gedacht?
27:27 min Bild: Keystone / John Mcconnico
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Die Veränderungen müssen verstanden sein und mit den Modellen übereinstimmen. «Dies führt dazu, dass der Bericht von seiner Natur her eher konservativ ist», sagt Klimawissenschaftler Erich Fischer von der ETH Zürich. Neue Beobachtungen und Tendenzen werden erst Jahre später im Bericht abgebildet, wenn sie genügend gesichert sind. So funktioniert saubere wissenschaftliche Arbeit.

Angriffe machen Wissenschaftler noch vorsichtiger

Gleichzeitig sind viele Klimawissenschaftlerinnen und Klimawissenschaftler noch vorsichtiger geworden in ihren Aussagen, seit sie 2009 von Klimawandel-Skeptikern massiv angegriffen wurden.

Den Forschenden wurde damals unterstellt, sie würden Studien und Daten unterschlagen, um so gezielt Alarmismus zu betreiben. Diese Vorwürfe wurden zwar alle entkräftet, trotzdem wirken sie nach. «Wir wollten nicht als Alarmisten dastehen, wir blieben hinterfragende Wissenschaftler», sagt Fischer, «aber vielleicht sind wir dabei manchmal übervorsichtig geworden».

Alarmismus in den Pressemitteilungen

Trotzdem kommt auch das Gegenteil vor, also dass Klimawissenschaftlerinnen und Klimawissenschaftler übertreiben. Weniger in den Studien selber, sagt Fischer, als vielmehr in den Pressemitteilungen, mit welchen diese Studien dann möglichst gut verkauft werden. «Ich kenne durchaus Beispiele, deren Ergebnisse zu stark zugespitzt wurden – wohl mit dem Ziel, die Leute wachzurütteln.»

Die Gefahr, wenn man nicht Klartext spricht

Es bleibt also ein Spagat: Klartext sprechen und dabei immer bei den Fakten bleiben. «Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Angst, als aktivistisch wahrgenommen zu werden», sagt Friederike Otto, «deshalb sind sie sehr vorsichtig und betonen die Unsicherheiten in den Studien.» Sie erachte dies aber als falsch und sagt: «Wir müssen viel mehr betonen, was wir alles wissen.»

Sonst drohe, dass die Stimme der Wissenschaft im zunehmend polarisierten Umfeld zu wenig Gewicht erhalte. «Wenn jetzt nicht dramatisch viel passiert in der Politik, dann wird die 1,5-Grad-Marke sehr bald erreicht. Bis Ende Jahrhundert landen wir bei etwa plus 3,2 Grad», sagt die deutsche Klimawissenschaftlerin. Sie will sich nicht vorwerfen lassen, nicht genügend Klartext gesprochen zu haben.

Echo der Zeit, 01.09.2023, 18:30 Uhr

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