- Sergio Devecchi lebte 17 Jahre lang in Heimen der evangelischen Stiftung «Gott hilft».
- Die Angst davor Gott könnte ihn bestrafen, wenn er nicht glaube, verfolgte ihn Jahrzehnte lang.
- Seine Geschichte hat der Pensionierte nun in einem Buch aufgearbeitet – so auch Cornelia Studer, die acht Jahre lang in einem «Gott hilft»-Heim lebte.
- Kinder haben in «Gott hilft»-Heimen viel Leid erlebt. Dies anerkennt heute auch die Stiftungsleitung dieser Kinderheime – und arbeitet dieses dunkle Kapitel auf.
Ende September konnten viele ehemalige Verding- und Heimkinder aufatmen. National- und Ständerat haben «Ja» gesagt zum Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungsinitiative.
Konkret heisst das: 300 Millionen Franken stehen als Entschädigungszahlung zur Verfügung. Zudem soll die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz historisch aufgearbeitet werden.
Geld wiegt das Leid nicht auf
«Die finanzielle Entschädigung ist keine Genugtuung», sagt Sergio Devecchi. Es sei eine mögliche Form der «Wiedergutmachung».
Wiedergutmachung setzt der pensionierte Pädagoge dabei bewusst in Anführungs- und Schlusszeichen.
Das erlebte Leid könne nicht durch Geld aufgewogen werden. Es sei aber positiv, dass die offizielle Schweiz nun bereit sei, dieses dunkle Kapitel ihrer Sozialgeschichte auszuleuchten.
Abhängig von Gott
Sergio Devecchi lebte 17 Jahre lang in Heimen der evangelischen Stiftung «Gott hilft». Der reformierte Glauben wurde ihm in dieser Zeit regelrecht eingeimpft. «Ich war abhängig von Gott, weil man mich von ihm abhängig gemacht hat», beschreibt der 69-Jährige das Gefühl aus jener Zeit.
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Er habe nie wirklich an Gott geglaubt. Doch die Angst, dieser Gott könnte ihn bestrafen, wenn er nicht glaube, diese Angst verfolgte ihn Jahrzehnte lang. «Ich brauchte ein halbes Leben, um von Gott loszukommen» sagt Sergio Devecchi.
Seine Geschichte hat der Pensionierte nun aufgearbeitet – im Frühjahr erschien sein Buch: «Auf dem Heimweg».
«Conny vom Schwalbenhaus»
Auch Cornelia Studer hat ihre Heimgeschichte veröffentlicht. Sie lebte acht Jahre lang in einem «Gott hilft»-Heim. Es sei eine Art Befreiung gewesen, sagt die heute 59-Jährige. Jetzt, da es in der Publikation «Conny vom Schwalbenhaus» nieder geschrieben sei, könne sie loslassen.
Cornelia Studer wurde 1965 ins Heim gesteckt. Das Mädchen erlebte viel Gewalt, wenig Verständnis, kaum Liebe.
Sie schildert die Vergewaltigung durch einen älteren Zögling. Wie sie das erlebte Leid niemandem erzählen konnte, da Sexualität wie auch sexuelle Gewalt im evangelischen Heim ein Tabuthema war.
«Gott hilft» arbeitet Geschichte auf
Kinder haben in «Gott hilft»-Heimen viel Leid erlebt. Dies anerkennt heute auch die Stiftungsleitung dieser Kinderheime. Deshalb liess die Stiftung ihre Geschichte aufarbeiten.
Die Historikerin Christine Luchsinger forschte zwei Jahre lang in den Archiven, führte Gespräche mit ehemaligen Angestellten und Heimkindern und legt nun das Buch «Niemandskinder» vor. Die Autorin hält fest: In den «Gott hilft»-Heimen wurden Kinder geschlagen, gedemütigt, sexuell ausgebeutet.
Die Historikerin fokussiert in der 100-jährigen Geschichte der Stiftung aber nicht das Schicksal der Kinder, sondern stellte die Pädagogik ins Zentrum. Sie erforschte den Erziehungsstil und wie sich dieser im Verlauf der Jahre verändert hat.
Keine Anklage, keine Entschuldigung
Ein Buch kann nicht allen gerecht werden. Christine Luchsinger schreibt in ihrer Einleitung: «Dieses Buch ist weder Anklage noch Entschuldigung. Es zeigt strukturelle und menschliche Schwächen auf, wie es ausserordentliche Pioniere und durchdachte Konzepte würdigt.»
Sergio Devecchi als ehemaliger Bewohner der Heime findet einen Teil seiner Geschichte im Buch «Niemandskinder» wieder. Es sei eine Möglichkeit die Heimgeschichte aufzuarbeiten.
Aber eben nur eine. Er wird in seinem Buch nochmals eine andere Seite der «Gott hilft»-Heime aufzeigen. Aus der Sicht eines ehemaligen Heimkinds.