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Zum 100. Geburtstag Sexpertin Marta Emmenegger – tabulos und schlagfertig

Telefonsex, Fetische, Vibratoren im Altersheim: Nichts war für Marta Emmenegger Tabu. Sie war Aufklärerin der Nation und eine Institution. Fragen zu Liebe, Sex und Beziehungen beantwortete sie ungeschminkt. Nun wäre sie 100 Jahre alt.

Als Kurt Aeschbacher 1983 Marta Emmeneggers neues Buch – ihre Sex- und Beziehungskolumnen in gesammelter Form – als «journalistisch aufgemotzten Soft Porno» abtat, gab sie zurück: «Wieso nennen Sie es aufgemotzten Soft Porno, was in Wahrheit eine ernste Angelegenheit ist?» Es sei eine Auslegung der Probleme, die die Leute effektiv haben. «Sie, ich und alle anderen.»

Eine Anekdote, die viel über die erste Sexratgeberin der Schweizer sagt. Schlagfertig war sie. Selbstsicher, seriös und sorgfältig.

Humorvoll, umsichtig und progressiv

Die meisten kennen Marta Emmenegger von ihrer Ratgeberkolumne «Liebe Marta», die von 1980 bis 1996 täglich im Blick erschien. Später kam die Radiosendung «Sex nach Neun» auf Radio Z dazu. Genauso wie etliche Auftritte in Talkshows und im TV.

«Liebe Marta» war ein Novum, eine Kolumne über Sexualität gab es zuvor in Schweizer Zeitungen nicht. Das i-Tüpfelchen: Marta Emmeneggers unaufgeregter Schreibstil. «Vielleicht hat sie das Gefühl, du sähest sie nicht mehr als Mensch, sondern nur noch als Riesenscheide», schrieb Emmenegger einem unbefriedigten Ehemann.

Interview-Situation mit drei Personen, die an einem Tisch sitzen
Legende: Gefragte Interviewpartnerin in Talkshows und im Fernsehen: Marta Emmenegger war die «Sexpertin» der Schweiz. In einem Interview sagte sie: «Ich werde immer als Sex-Beraterin vorgestellt, aber ich bin Lebensberaterin.» SF DRS / Marianne Wolleb

«Humorvoll, umsichtig und progressiv trat Marta Emmenegger in ihrer Kolumne auf», erläutert Annika Wellmann. Die Historikerin hat ihre Dissertation über die «Liebe Marta» geschrieben.

Sie hat 7000 Briefe und fast 4000 Kolumnen ausgewertet und so viel über die «Aufklärerin der Nation», wie sie in der Schweizer Presse genannt wird, gelernt.

Von der Erziehungsratgeberin zur Sex-Kolumnistin

Geboren wurde Marta Emmenegger 1923 in Altstätten (SG), in ein katholisches Elternhaus. Nach einer kaufmännischen Lehre heiratete sie mit 21 Jahren.

Zuerst war sie Mutter und Hausfrau, ab 1966 arbeitete sie als Journalistin für «Annabelle». Ihr damaliger Schwerpunkt: Erziehungsfragen. 1980 begann sie als Kolumnistin beim Blick.

Fachwissen angeeignet

Anfänglich zögerte Emmenegger, als der damalige Chefredaktor Peter Uebersax sie zur Sex-Kolumnistin machen wollte. Sie war Journalistin, keine Sexualpädagogin.

Marta Emmenegger brachte jedoch viel Lebenserfahrung mit. Als die Kolumne startete, war Emmenegger bereits 56, hatte drei Kinder und war geschieden. Die Journalistin hatte sie sich laufend weitergebildet, Fachliteratur gelesen und sich ein Netzwerk aus beratenden Urologen, Gynäkologinnen und Psychiatern aufgebaut.

Landesweite Institution

Was ursprünglich als kleine, einspaltige Kolumne in der Mitte der Zeitung begann, wurde rasch zum halbseitigen Aufmacher auf Seite 5. Innerhalb weniger Jahre wurde Marta Emmenegger landesweit bekannt.

So besang sie Polo Hofer und die Schmetterband 1986 «Liebi Marta i due warte, bis i dini Antwort ha. Du hesch für Liebeskummer gäng Verständnis gha». Sogar ein Schnitzelbangg an der Basler Fasnacht wurde der Aufklärerin der Nation 1988 gewidmet.

In den 16 Jahren, die Marta Emmenegger als Blick-Kolumnistin tätig war, gingen in der Redaktion fast 14’000 Briefe ein.

Von Intimrasur bis Einsamkeit

Wer waren die Leute, die sich an die «Liebe Marta» wandten? «Es waren ungefähr genauso viele Männer wie Frauen», hält die Historikerin Annika Wellmann fest, die Emmeneggers Archiv durchforstet hat.

«Sex Education»: So steht es um die Aufklärung heute

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Im Sexualkundeunterricht reicht ein Jugendlicher einer jungen Frau ein Kondom. Vor ihnen steht ein Dildo.
Legende: Imago Images / Everett Collection

Drei Fragen an Katja Hochstrasser, Leiterin der Sexualpädagogik in Zürich (SPIZ).

SRF: Wer und wann sollte mit Aufklärung beginnen?

Katja Hochstrasser: Optimal ist, wenn die Eltern eine Vorarbeit in Sachen Aufklärung leisten. Da dies nicht für alle Eltern gleich einfach ist, ist es wichtig, dass die Schulen auch einen Beitrag leisten. Lehrpersonen sollten fähig sein, wenn im Kindergarten oder in der ersten Primarstufe Fragen zum Thema Sexualität auftauchen, diese zu beantworten.

Ist die Jugend von heute besser aufgeklärt?

Wenn Jugendliche mit acht oder neun Jahren ein Handy bekommen, dann haben sie leicht Zugang zu verschiedensten Inhalten – auch sexuellen. Sie brauchen Hilfe, diese Informationen einzuordnen. Es wäre aber ein Trugschluss zu glauben, heutige Jugendliche seien besser aufgeklärt, bloss weil sie die Fülle an Informationen haben.

Wie wird 2023 in Schulen aufgeklärt?

In der 6. Klasse dreht sich vieles um den Körper, die Pubertät. Wir arbeiten spielerisch, etwa mit einem Quiz. Es gibt Stoffmodelle der Geschlechtsorgane und wir demonstrieren verschiedene Verhütungsmittel. Später, in der Oberstufe, geht es um Selbstbefriedigung, das erste Mal Sex mit einer anderen Person. Wir reden über sexuell übertragbare Infektionen und über Konsens: Wie gebe ich mein Einverständnis? Und der Klassiker: Es wird ein Kondom abgerollt, aber nicht mehr über Bananen, sondern über Dildos.

Die Bandbreite war gross, was das Alter der Schreibenden sowie deren Fragen betraf. Sie fragten, wie man sich selbst befriedige, ob man sich mit Lustlosigkeit in der Ehe abfinden müsse oder wie man sich im Intimbereich rasiere.

Sehr schnell kamen zu den sexuellen Sorgen auch andere dazu: Einsamkeit, Schulden, Alkoholismus, Existenzangst.

Es geht nicht nur um Sex

Das machte ihre Kolumne zu etwas Besonderem, sagt Wellmann. «Marta Emmenegger hat die angeblichen Beziehungsprobleme in einen grösseren Kontext gestellt.»

Auflagesteigerung war nicht Emmeneggers Ziel, schon gar nicht die voyeuristische Schmuddelecke. «Ich werde immer als Sex-Beraterin vorgestellt, aber ich bin Lebensberaterin», sagt sie in einem Interview. «Die Geschichten reichen tief in ein Menschenleben hinein. Es ist überhaupt nicht nur Sex!»

Progressive Marta?

Gerne wird betont, wie fortschrittlich – gar revolutionär – Marta Emmenegger war. Umkrempeln wollte Emmenegger die Gesellschaft nicht. «Ihr ging es um die persönlichen und individuellen Geschichten», so Wellmann.

Aber ihre Haltung war bei einigen Themen durchaus fortschrittlich. So wies sie homophobe Äusserungen zurück und propagierte «verschiedene Formen von Beziehungen – weit über das heterosexuelle, monogame Spektrum hinaus», so Wellmann.

Frau mit rosa Hemd in einem Garten mit vielen bunt blühenden Pflanzen und Blumen.
Legende: Auf dem Boden geblieben: Marta Emmenegger in ihrem Garten, 1993. Mit ihrer populären Rubrik «Liebe Marta» trug sie wesentlich zur Enttabuisierung sexueller Themen bei. Getty Images / Kurt Reichenbach / RDB / ullstein bild

Als Gast in Röbi Kollers Talkshow zum Thema Treue und Seitensprünge meinte sie: «Es kann nicht sein, dass wir in der Gesellschaft nur ein Modell von Zusammenleben haben.»

Ihr Credo: Alle Beteiligten sollen gemeinsam aushandeln, was sie im Bett und in der Beziehung glücklich macht. Auf Augenhöhe.

Vibrator im Altersheim

Vehement vertrat sie zudem den Standpunkt: Sex geht auch im höheren Alter. Ihre Worte fruchteten: «Ich habe angefangen, mich selbst zu befriedigen. Könnten Sie mir einen Vibrator schicken? In einen Sexshop zu gehen, traue ich mich nicht», schrieb eine Witwe aus dem Altersheim.

Trotz vieler progressiver Seiten hat Marta Emmenegger sich in ihren Briefen auch einiger Stereotypen bedient: «Etwa bei Frauen, die aus Asien kamen, waren ihre Zuschreibungen hanebüchen», erläutert Historikern Annika Wellmann. Wellmann würde nicht von Rassismus reden, aber «von kulturellen Zuschreibungen, die problematisch sind».

Therapie für alle

Obwohl Marta Emmenegger 1995 durch eine jüngere Kolumnistin, Eliane Schweitzer, ersetzt wurde, galt sie bis zu ihrem Tod 2001 als herausragende Expertin in Sex- und Beziehungsfragen.

Sie half mit ihrer Arbeit mit, die Sexualität von einem moralischen Gerüst zu befreien. Zudem hat sie «popularisiert, dass es Angebote wie Therapien und Selbsthilfegruppen gibt. Sie hat den Leuten gezeigt, dass sie nicht allein sind», sagt Historikerin Wellmann.

Alles andere als abgehoben

Dass Emmenegger bis heute in der Gesellschaft in so guter Erinnerung geblieben ist, liegt wohl auch daran, dass sie sich stets nahbar zeigte. In einem TV-Interview erklärte sie einst, wie oft sie Schreiben von Männern erhalten würde, die sie kennenlernen wollten.

Sie verstehe ja viel von Sex und würde sicher «eine Glanznummer hinlegen», zitiert sie die Schreibenden. Aber, widersprach sie, «ich bin ein Mensch wie jeder und jede andere. Ich bringe meine Ängste, meine Beschränkungen, meine Kindheit, meinen Erfahrungen und meine Bindungstraumata mit.»

Radio SRF1, Treffpunkt, 18.10.2023, 10:03 Uhr

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