Sie kennen die Bücher von Patrick Modiano nicht, dem Nobelpreisträger für Literatur 2014? Dann haben Sie jetzt die Chance, sich mit der Lektüre von nur einem Modiano-Roman zur Modiano-Kennerin zu mausern. Denn das eben auf Deutsch erschienene Buch «Gräser der Nacht» ist ein typischer Modiano: eine Paris-Hommage, ein Erinnerungsroman, eine Liebesgeschichte rund um ein dunkles Verbrechen.
Entführung, Tod und Liebe in Paris
Das klingt nicht nur spannend, das ist auch spannend. «Gräser der Nacht» ist ein kriminalistischer Indizienroman auf den Spuren einer Liebe und eines dunklen Verbrechens, das sich wirklich ereignete. Paris 1965: Im Zuge der Unabhängigkeit Marokkos flüchten viele Oppositionelle nach Frankreich. In Paris fühlen sie sich in Sicherheit. Doch dann wird ein marokkanischer Exilpolitiker auf offener Strasse entführt. Und später erschossen.
Patrick Modianos Roman nimmt dieses reale Ereignis als Ausgangspunkt, um verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen. Immer im Zentrum der Geschichten: eine geheimnisvolle junge Frau. Und die weiss mehr, als sie preisgeben will. Der Ich-Erzähler in Modianos Roman war vor 40 Jahren in die junge Frau verliebt – und lässt nicht locker, bis er mehr von ihr erfährt.
Miteinander sind er und die junge Frau durch das Paris der 1960er-Jahre spaziert. In seinen Erinnerungen setzt er ein Puzzle-Teilchen nach dem anderen zusammen. Und die Verbindung zwischen ihr und dem Mord wird immer augenfälliger – doch das letzte Puzzle-Teilchen, die junge Frau von damals, ist verschwunden.
Modianos Sprache ist bestechend
Nebst diesem packenden Inhalt ist Patrick Modianos Sprache bestechend. Traumtänzerisch-schwebend, melancholisch-düster, von Nebel umwölkt. Man fühlt, was Modiano meint, wenn er schreibt: «Ja, manchmal ist das Leben eintönig und alltäglich, wie heute, da ich diese Seiten schreibe, um Fluchtlinien zu finden und zu entweichen, durch Breschen in der Zeit.»
Und genau diese Breschen in der Zeit schlägt Modiano für den Leser. Modianos Sprache trägt die Leser sanft wogend durch Raum und Zeit. Durch eine Welt, in der sich Gegenwärtiges mit Vergangenem mischt. In der man spürt, dass man Teil von etwas viel Grösserem ist. Von etwas, das man im ganz normalen Alltagstrott schnell einmal vergisst.
Was sind Erinnerungen wert?
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«Gräser der Nacht» ist ein reifer Roman mit autobiografischen Zügen. Er lebt von der Erkenntnis, dass uns einzig Erinnerungen letztlich ausmachen. Modianos Protagonist erinnert sich an seine Liebe, ohne diese proaktiv aufspüren zu wollen. Sie ist durch seine Erinnerungsarbeit zu einem Teil von ihm geworden. Doch ihre Absenz schmerzt dennoch. Und er wünscht sich nichts sehnlicher, als seiner damaligen Geliebten «durch Breschen in der Zeit» noch einmal zu begegnen: «Der Bois, die leeren Avenuen, die dunkle Masse der Häuser, ein erleuchtetes Fenster, das einem das Gefühl gibt, man habe in einem anderen Leben vergessen, das Licht auszuknipsen, oder jemand erwarte einen noch … Bestimmt versteckst du dich in diesen Vierteln. Unter welchem Namen? Irgendwann finde ich die Strasse. Doch jeden Tag drängt die Zeit, und jeden Tag sage ich mir, vielleicht gelingt’s mir ja ein andermal.»
Das ist melancholisch, das ist Poesie.