«Die da oben in Bern, die machen eh, was sie wollen.» Diesen Spruch hört der Politologe Michael Hermann ab und zu. Trotzdem sei das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Politik in den letzten 20 Jahren viel besser geworden. Das habe nicht zuletzt damit zu tun, dass das Schweizer Parlament die Sorgen der Bevölkerung heute ernster nehme.
Michael Hermann, so mancher Stimmbürger hat den Eindruck: Der Volkswille wird manchmal missachtet. Verstehen Sie diesen Frust?
Ja, ich kann ihn verstehen. Typischerweise entsteht dieser Eindruck, wenn es um die Umsetzung von Initiativen geht. Ein prominentes Beispiel ist die Masseneinwanderungs-Initiative. Und auch die Alpeninitiative wurde angenommen und dann überhaupt nicht umgesetzt. Natürlich kann man da das Gefühl bekommen, dass die Bevölkerung etwas entscheidet und die Politik dann einfach macht, was sie will. Es ist aber die Aufgabe und das Recht des Parlaments, Gesetze zu beschliessen. Diese neuen Gesetze müssen mit anderem Recht übereinstimmen und darum hat das Parlament einen gewissen Spielraum bei der Umsetzung von Initiativen.
Wenn aber ein vom Volk angenommener Verfassungsartikel nicht umgesetzt wird, ist das dann nicht stossend?
Die Durchsetzungsinitiative entstand ja genau aus dieser Frustration heraus. Eine klare Mehrheit hat sie aber abgelehnt. Letztlich hat das Volk also bestätigt, dass es dieses Spannungsverhältnis geben soll, wenn ein neuer Verfassungsartikel umgesetzt wird. Die Macht des Volkes ausbauen und die des Parlaments und der Gerichte beschränken, das wollte die Bevölkerung offensichtlich nicht. Ich glaube, man ist sich durchaus bewusst, dass das Parlament eine gewisse Handlungsfreiheit braucht.
Bei Strassenumfragen bekamen wir mehrmals zu hören: Die Politik vertrete die Interessen der Wirtschaft und nicht die Interessen der Bürger. Warum haben viele Menschen diesen Eindruck?
Die Schweiz hat ein Miliz-Parlament, und eine Mehrheit der Bevölkerung steht hinter diesem System. Politiker müssen folglich auch anderen Tätigkeiten nachgehen können. Viele sind beispielsweise Vertreter oder Vertreterinnen von Krankenkassen. Andere sind in Umweltverbänden oder in Gewerkschaften. Die Doppelrolle, welche die meisten Politikerinnen und Politiker haben, führt natürlich dazu, dass die Volksvertreter auch Interessensvertreter sind. Politiker haben verschiedene Hüte auf, und einige der einflussreichsten Lobbyisten sind zugleich auch Politiker. Wenn wir das ändern wollen, müssten wir das System radikal ändern und nur noch Berufspolitiker zulassen. Aber offensichtlich will das die Bevölkerung nicht.
Die Politik in der Schweiz nimmt die Sorgen der Bevölkerung ernst.
Sie sind also der Ansicht, dass der Graben zwischen Politik und Bevölkerung nicht so gross ist?
Das zeigen auch internationale Vergleiche. Die Zufriedenheit mit der Politik in der Schweiz ist überdurchschnittlich hoch. Sie ist in den letzten 20 Jahren deutlich gestiegen. Ich denke, das ist ein Verdienst der direkten Demokratie. Die führt zwar dazu, dass solche Irritationen und Frustrationen wie bei der Masseneinwanderungsinitiative entstehen. Aber sie führt auch dazu, dass die Politik nicht völlig abhebt. Sie muss spüren, was die Bevölkerung will – oder wenigstens was ein Teil der Bevölkerung will. Aber die Politik hier ist volksnah. Sie nimmt die Sorgen der Bevölkerung ernst, beispielsweise wenn es um die Migration geht. Das hat den positiven Effekt, dass der Graben zwischen Bevölkerung und Politik vergleichsweise klein ist.