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Maraudiere Soldaten im Dreissigjährigen Krieg.
Legende: Im Dreissigjährigen Krieg wurde willkürlich geplündert (Im Bild: Marodierende Soldaten, 1647) Wikimedia / Anagoria

Barock – mon amour Der «Simplicissimus»: Barockes Denkmal für den entgrenzten Krieg

Ob Schelmenroman, Kriegsreport oder Lehrbuch: Dem Roman «Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch» von 1668 können viele Etiketts angehängt werden. Denn er ist ein Paradebeispiel für barocke Überfülle. Lesenswert ist er auch heute noch.

«Also wurde ich beizeiten gewahr, dass nichts Beständigers in der Welt ist, als die Unbeständigkeit selbsten.» Zu dieser Erkenntnis kommt der jugendliche Simplicius, der Held und Erzähler dieser Geschichte, früh. Erst noch war der elterliche Hof im Spessart von marodierenden Soldaten verwüstet worden, war er in den Wald geflohen und hatte bei einem Eremiten lesen und schreiben gelernt. Erst noch war er nach des Eremiten Tod in Hanau wegen seiner Naivität zum Narren der Gesellschaft geworden und buchstäblich in ein Kalbfell gesteckt worden.

Jetzt, im Jahr 1637, ist er «Der Jäger von Soest». Ein gefürchteter Bandenführer im Dienst der kaiserlichen Armee in Westfalen, reich geworden dank Überfällen und Räubereien. Später wird der bildschöne Jüngling Liebesdiener bei den besseren Damen in Paris. Dann erkrankt und verarmt er, wird Pilger nach Einsiedeln in der Innerschweiz, wird wieder Soldat, wird Räuber und am Ende Einsiedler im Schwarzwald. Als dieser verfasst er seinen Lebensbericht.

Buchhinweise

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  • Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: «Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch». Mit Anmerkungen von Alfred Kelletat, dtv, 1975 (Originalsprache leicht modernisiert).
  • Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: «Der Abenteuerliche Simplicissimus Deutsch», die andere Bibliothek im Eichborn Verlag, 2009 (Übersetzung ins Neuhochdeutsche).

Ein literarischer Paukenschlag

«Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch» ist der berühmteste deutsche Roman der Barockzeit und ein Meilenstein der Literaturgeschichte. Er ist ein Kompendium barocken Weltwissens und barocker Weltanschauung und ein Lehrbuch für Verhaltensmuster in einer kriegerischen und hochreligiösen Zeit, in welcher Aberglaube noch mächtiger ist als aufgeklärter Rationalismus. Und der «Simplicissimus» ist ein reichhaltiges historisches Dokument aus dem Dreissigjährigen Krieg (1618–1648), der ganze Landstriche des deutschen Sprachraums verheerte.

Der Autor dieses Schelmenromans, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622–1676), wusste, wovon er schrieb: Seine Vaterstadt Gelnhausen wurde im Krieg verwüstet, er selber wohl als Jüngling von kroatischen Reitern geraubt und in den Krieg hineingerissen. Der Roman ist zwar immens viel mehr als eine Autobiografie, aber zumindest einige Stationen des Vaganten Simplicius lassen sich auch in Grimmelshausens Leben nachweisen.

Der literarische und historische Wert des Romans

Interessant ist aber nicht der «reality check» am Autorenleben, sondern der literarische und historische Wert des «Simplicissimus». Grimmelshausen komponiert ein Weltabenteuer und bietet dazu die gesammelte abendländische Kultur auf. Als Universalgelehrter zitiert er antike Autoritäten und Mythologien ebenso wie die Bibel und zeitgenössische Autoren. Beispielsweise, um augenzwinkernd nachzuweisen, wie edel Simplicius' Hirtenamt war, bedenkt man, wer von Abraham bis Apollo alles seine Vorgänger waren. Ganze Passagen schreibt Grimmelshausen praktisch wörtlich aus anderen Büchern ab. Heute könnte er sich vor Urheberrechtsklagen nicht retten.

Hintergrund der Handlung ist der Krieg, in dem es Simplicius herumwirbelt: Von den Schweden zu den Kaiserlichen und zurück, vom Spessart nach Magdeburg und Soest und an den Oberrhein. Der Krieg erscheint den Akteuren nicht als zusammenhängende militärische Aktion, sondern als omnipräsente, scheinbar unendliche Gewaltorgie. Es gibt keine erkennbaren Fronten. Überall sind Armeen und Banden, Schlachten und Scharmützel, Städte werden monatelang belagert, zuweilen eingenommen. Die Landbevölkerung ist der Soldateska ausgeliefert: Was diese braucht, nimmt sie sich. Ein rechtloser Zustand ohne Ausweg, in dem das eigene Überleben zur einzigen Sorge wird.

Entgrenzte Gewalt auch heute

Die geschilderte Realität des Dreissigjährigen Krieges ist uns Mitteleuropäern heute fern. Vertraut ist sie uns dennoch: Immer wieder neu überfallen uns Bilder und Berichte von entgrenzter Gewalt. In den 90er-Jahren schreckten die Gräuel der Jugoslawienkriege die Welt auf und der Genozid in Ruanda. In jüngster Zeit scheinen die Menschen in Gebieten, welche die IS-Terrortruppen im Nahen Osten erobern, unter Willkür und Gewalt zu leiden. Das Fehlen eines staatlichen Gewaltmonopols, eine mitleidslose Soldateska, menschliche Not: Kommen diese Faktoren zusammen, erinnert das Resultat sofort an den Dreissigjährigen Krieg, wie ihn Grimmelshausen im «Simplicissimus» in umfassender Weise literarisch erfasst und dargestellt hat: Der Mensch wird des Menschen Wolf.

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