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Barock – mon amour Orgien brachten ihn hinter Gitter: de Sade, Vater des Sadismus

Der Begriff Sadismus geht auf ihn zurück: den Marquis de Sade. Ein Adliger seiner Zeit, ein Frauenheld, ein Orgienliebhaber und Verschwender. Einer, der es weit trieb in seinen Orgien. Aber eigentlich ging es dem Marquis um etwas anderes.

Der Marquis de Sade war kein Sadist. Das sagt sein Biograf, der Historiker und Professor an der Universität Fribourg, Volker Reinhardt. Und er betont, dass es dem Adeligen aus der Provence, dessen Gedanken Zeit seines Lebens um die Sexualität und ihre Varianten kreisten, durchaus mit den Grenzen des Schmerzes, der Lust am Schmerz beim Sex experimentierte. Aber de Sade sei nie so weit gegangen, sein Opfer zu Tode zu quälen.

Orgien als Experimente

Tatsächlich: Donatien Alphonse François de Sade, geboren im Jahr 1740, Liebhaber vieler Frauen, Offizier in der königlichen Armee, Gutsherr und bürgerlich verheiratet – er wurde mit vielen, durchaus skandalösen Orgien bekannt. Diese Orgien waren als fast schon wissenschaftliche Experimente angelegt, minutiös vorbereitete Sessionen: de Sade verstand sich als Experimentator, als der Galileo Galilei der menschlichen Sexualität.

Porträt eines jüngeren Mannes mit Perücke.
Legende: Die unschuldige Fassade trügt: Porträt von de Sade, ca. 1761. Wikimedia

Bei der einen Session, vollzogen am 27. Juni 1772 in Marseille, ging es nicht nur um Peitschen, nicht nur um «homosexuelle Handlungen», um Schmerzzufügungen aller Art – de Sade hat den beigezogenen Prostituierten auch die «spanische Fliege» verabreicht, ein Aphrodisiakum, das die Frauen fast umbrachte; und diese eine Orgie brachte de Sade dann für Jahre ins Gefängnis. Dort begann er zu schreiben.

Noch vor Freud: Sexualität als Triebkraft

Er lotete literarisch und philosophisch die Grenzbereiche des Menschlichen aus, entlang seiner Überzeugung, dass der Mensch (im Gegensatz zu Jean-Jacques Rousseau) nicht gut, sondern böse sei, dass er (im Gegensatz zu den Aufklärern) nicht vernunftgetrieben, sondern von seinen Trieben bestimmt und (entgegen der christlichen Lehre) von Gott verlassen und gänzlich untugendhaft sei.

Hinter Gefängnisgittern macht sich der Marquis auf, den Beweis anzutreten für das Äusserste, was Menschen anderen Menschen antun können. In seinen Werken reihen sich rituelle Morde an gewalttätige Sexszenen, philosophische Raisonnements folgen auf Kindsmorde, Blut, Kot, Sperma überall. Und stets sind da eigentliche Zeremonienmeister, die sich an diesen Exzessen ergötzen und die schrecklichen Orgien dann auch als einzige überleben.

So hat de Sade mit seinen Werken vieles an späteren Erkenntnissen vorweggenommen, vor allem die Freud’sche Einsicht in die Triebkraft der Sexualität. Und er lieferte in seinen Werken die Vorlage für das, was in der späteren psychologischen Literatur als «die Empfindung von sexuellen Lustgefühlen bis zum Orgasmus beim Sehen und Erfahren von Züchtigungen und anderen Grausamkeiten» (Richard von Krafft-Ebing in seiner «Psychopathia sexualis», 1902) bezeichnet wurde.

Ein Grenzgänger, ein Vordenker ...

Sadismus gilt heute als eine «Störung der Sexualpräferenz» in der Klassifikation der Krankheiten gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO. Sadismus wird mittlerweile aber auch klar gegen alle Formen von Sexualität abgegrenzt, bei denen beide (oder alle) Partner sich auf bestimmte Zufügungen einvernehmlich einigen, namentlich bei «SM», dem Sadomasochismus und dem «BDSM», also «Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism» abgegrenzt.

Aber de Sade hat noch mehr vorweggenommen: Eine tiefe Einsicht in eine zerstörerische Kraft des Menschen, und dass sie sich unter bestimmten Voraussetzungen ins Unermessliche steigern kann – unter Befehlsgewalt, unter bestimmten politischen Bedingungen, unter Gruppendruck, aus fanatischen Überzeugungen.

... und vielleicht sogar etwas von einem Propheten

So gesehen sind seine Werke frühe Vorwegnahmen von dem, was sich später ereignen sollte, in den menschenverachtenden Praktiken der Nationalsozialisten, in den Gewaltexzessen der kolonialen Eroberer, in den Schlächtereien auf den Schlachtfeldern der Kriege. Der Marquis, der sich durchaus als Naturwissenschaftler verstand, hat vorgedacht, was spätere Experimentatoren im Milgram-Experiment nachgewiesen haben: dass der Mensch einen anderen mit Stromstössen ins Unermessliche quälen kann, wenn es ihm nur nachdrücklich befohlen wird und er dafür einen Rechtfertigungsgrund findet.

Seine 120 Tage von Sodom, so gesehen, sind die späteren Konzentrationslager. Und seine Beschreibung der Blutbäder in der Justine sind nicht nur die späteren Exzesse der Jakobiner, sondern auch, vielleicht, jene des verblendeten Terrors in Kobane und anderswo.

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