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Aussenaufnahme durchs Fenster auf Bedienungspersonal im Solothurner «Kreuz»
Legende: Die dienstälteste Genossenschaftsbeiz der Schweiz «Kreuz» in Solothurn - als gesellschaftlicher Gegenentwurf gedacht Keystone

Der Archivar Aussteigen im «Kreuz»: Als Literaten neue Lebensentwürfe schufen

Was macht eigentlich Sinn? Wie will man leben? Und arbeiten? Das waren die Fragen bei den ersten Solothurner Literaturtagen 1979 in der Genossenschaftsbeiz «Kreuz». Verblüffend: Wie gross der zeitliche Abstand auch sein mag, die Fragestellungen von damals sind geblieben.

Solothurn plus Literaturtage ist gleich «Kreuz». Da wurde die Idee geboren, da sassen sie alle zusammen, die Gründer, die Literaten, bei den Meisten die Haare damals schon wenig dafür lang, die Aschenbecher dreckig und voll, aber eine ging immer noch. Haltungsrauchen.

Es wurde diskutiert und vor allem «reflektiert», das Wort einer Generation. Die Nächte waren lang, sehr lang, die Erinnerung an einige setzte aus. Zumeist auch besser so, Vergessen kann erlösen.

«Die Gäste wünschen Bedienung - nicht Demokratie»

Die erste Fernsehsendung aus Solothurn ging am 25. Mai 1979 über den Äther. Da standen zwei Bücher im Mittelpunkt: Otto F. Walters «Die Verwilderung» und und Rolf Niederhausers «Ein paar junge Leute haben es satt zu warten auf das Ende der blossen Vermutung, dass es bessere Formen menschlicher Gemeinschaft gibt».

Das Buch mit dem Titel, der eigentlich schon der erste Satz ist, hatte «Das Kreuz» zum Thema und so war die fünf Jahre zuvor gegründete und heute dienstälteste real-existierende Genossenschaftsbeiz nicht nur Thema der «1. Literaturtage» sondern auch Austragungsort: kohärenter hätte man nicht starten können. Das Bedienungspersonal war zugleich auch literarisches, die Wirklichkeit im Zeitalter ihrer literarischen Reproduzierbarkeit und umgekehrt.

Da schrieb Niederhauser Sätze wie: «Die Gäste wünschen Bedienung - nicht Demokratie.» Das war Pointe und Bankrotterklärung zugleich, im Grunde einfach gross, die Reduktion zweier Weltsichten in einem Satz.

Freiheit oder Plansoll

Friedrich Engels wird zitiert, von Freiheit, Einsicht und Notwendigkeit war die Rede und es wurde philosophiert über die Differenz von Freiheit und Plansoll. Das waren die Zeiten, in denen das Wort «Aussteiger» geboren wurde. Die Meisten drifteten in anderen vielleicht höheren Sphären, geografisch jedenfalls überwiegend im Asiatischen.

Bei Niederhauser und Walter stiegen sie um oder aus - mitten in der Schweiz - in eine andere Lebensform, in eine Organisation mit hoher Eigenverantwortung und ohne zumindest erkennbare Hierarchie. Im langen Marsch durch die Institutionen nahmen sie einen Trampelpfad links am Eigenheimgarten vorbei - hinaus ins Offene.

Wie geht Gemeinschaft?

Und was bei Niederhauser eng an die Wirklichkeit angelehnt war, das war bei Otto F. Walter «Erfindung», sagte er zumindest. Mit dramatisch tragischem Ausgang, die Gesellschaft setzte in seiner «Verwilderung» einer Utopie ein Ende, sie hielt den gesellschaftlichen Gegenentwurf nicht aus.

Bei Niederhauser verlief das alles anders, weniger pessimistisch, das «Kreuz» gab`s ja auch noch, und viele Jahre später sollte es sogar für`s bürgerliche Klientel interessant werden. Aber das konnte damals niemand ahnen, wie sehr sich ein aggressiv tolerantes Jahrhundert seine Gegenpositionen schmackhaft macht und sie sich einverleibt.

So gross die literarischen und stilistischen Unterschiede der Autoren im Nachdenken über die Begriffe «Kooperation, Genossenschaft, Gemeinschaft» auch sein mögen, ihre Fragestellungen waren doch dieselben. Otto F. Walter hat Niederhauser entdeckt und unterstützt: dranbleiben!

So verwundert es auch nicht, sondern ist nur folgerichtig, dass der Luchterhand Verlag, den Otto F. Walter später leitete, Niederhausers Text herausgab. «Das Kreuz» als erster Synonym-Ort für Schweizer Literatur erschien in Deutschland: so (fast) globale Bedeutung kann Lokales erlangen, das ist immer wieder das Wunder an Literatur.

So überraschend viel «heute» steckt in der Literatur von damals

Im Abstand der Jahre scheint Vieles nostalgisch, die Positionen von damals sind ohne Einschränkung kaum noch zu formulieren und es bleibt doch die uneingeschränkte Richtigkeit der Fragestellungen. Die Fragen nach Sinn, dem persönlichen wie gesellschaftlichen, nach Lebensbedingungen, nach wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, nach dem richtigen Sein im Falschen, danach wie diese Welt funktionieren soll.

Im Augenschein der gegenwärtigen Eurokrise, der Griechenlandkrise, der Wirtschaftskrise, der Ökokrise, der Verteilungskrise, in Zeiten von «Occupy» und «Offshore-Leaks», in Zeiten wo die Designfirma der Intelligenzia das Wort «Steuer» in den passiven Wortschatz verbannt hat und wo sich eine «Zwei-Klassengesellschaft» innerhalb eines als Einheit gedachten Proletariats breit macht und «Leiharbeit» heisst, in den heutigen Zeiten also entdeckt man in der Begegnung mit einer mehr als 30 Jahre alten Literatur, wie viel und wie wenig sich verändert und wie gleich lautend die Fragen geblieben sind.

Link zur Sendung

Heute sind die Autorennamen andere: Einer heisst Richard Sennett. Und das Buch «Togetherness». In der deutschsprachigen Übersetzung wurde daraus: «Zusammenarbeiten».

Auch das ist klar, geht es im Deutschsprachigen zuerst um Arbeit.

Otto F. Walter, Rolf Niederhauser, Richard Sennett trennt viel. Wenn man sie aber zusammen denkt, dann ist es plötzlich nur ganz wenig, denn dann arbeiten sie alle - gemeinsam - an der Frage, was eine Gesellschaft im Innersten und letztlich zusammen hält.

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