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Der Archivar Das Sterben lässt sich nicht verdrängen

Am 8. Juni 1972 bringt die Sendung «Perspektiven» einen Beitrag zum Thema Tod. Tenor: Wir verdrängen ein Leben lang. Und wenn der Tod dann näher kommt, sind alle hilflos. Die Trauer kommt. Die Sprache geht. Mit der Verdrängung ist es zu Ende, die einzige und letzte Gewissheit ist da.

  • Die Sendung «Perspektiven» berichtet 1972 über den Tod und stellt fest: Der Tod wird in unserer Gesellschaft systematisch verdrängt.
  • Das ist auch heute noch so: Viele haben bis ins hohe Alter noch keinen Toten gesehen. Der Tod wird unsichtbar gemacht.
  • Im Paracelsus Spital in Richterswil ist das seit 25 Jahren anders. Man hat ein Ritual gegen die Verdrängung entwickelt.

«Das Sterben lässt sich nicht delegieren»

Die Sendung «Perspektiven» zeigt die, die täglich mit dem Tod umgehen. Ein Mitarbeiter eines Krematoriums sagt, der Tod werde verwaltet aber: «Das Sterben lässt sich nicht delegieren.» Ein Bestatter führt seine verschiedenen Sargmodelle vor. Ein Steinhauer weiss, welcher Stein warum zu welcher Persönlichkeit passt. Ein Totengräber sagt, wenigstens auf dem Friedhof seien alle gute Nachbarn. Er sagt auch, der Tod sei das einzig Sichere, womit wir uns aber nicht auseinandersetzten. Der Tod werde systematisch verdrängt, sagen die, die täglich mit ihm umgehen.

Und heute?

Zur Person

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Legende: Franz Kasperski / SRF

Michael Decker ist ärztlicher Leiter im Zentrum für Integrative Onkologie am Paracelsus Spital Richterswil. Er ist Hämatologe und Onkologe und behandelt sowohl mit schulmedizinischen als auch mit komplementärmedizinischen Methoden.

Todesverdrängung gibt's auch heute zuhauf: Viele haben bis ins hohe Alter noch keinen Toten gesehen. Als werde der Tod unsichtbar gemacht. Im Paracelsus Spital in Richterswil ist das seit 25 Jahren anders. «Das Spital verbindet Schul- und Komplementärmedizin – mit Schwerpunkt Anthroposophische Medizin – im Sinne einer Integrativen Medizin», sagt der leitende Arzt Michael Decker: «Menschen kommen hier auf die Welt und werden mit offenen Armen empfangen und dann spannt sich der Bogen zu der anderen Polarität: zum Tod.» Decker sagt, sie hätten ein Ritual entwickelt, eine Abschiedsfeier, «primär um den therapeutischen Bogen zu schliessen.» Ein Ritual gegen die Verdrängung.

Das Personal hat in diesem überkonfessionellen Ritual die Gelegenheit, von dem Menschen Abschied zu nehmen, den die Ärzte behandelt, die Pflegenden versorgt haben. Das werde besonders geschätzt, sei für Viele so etwas «wie ein innerer Anker.»

Es könne nicht sein, dass man jemanden über Jahre begleite, am Schluss mit ihm ein Stück Weg zum Tod hin gehe und dann komme man vielleicht eines Montag Morgens ins Spital und dieser Jemand sei weg. Das gehe für ihn nicht.

Innehalten statt einfach weitermachen

Sie hätten dieses Ritual gemacht, «um den richtigen inneren Umgang mit dem Tod zu finden, um der Abstumpfung vorzubeugen und um nicht zynisch zu werden». Nicht verdrängen, nicht weitermachen sondern innehalten. Die Hinterbliebenen sind zu dieser Abschiedsfeier eingeladen. In den Jahren sei das von vielen Angehörigen dankbar angenommen worden. Das ersetze nichts, keine familiäre, kirchliche oder sonstige Abdankungsfeier. Die Menschen, die da am offenen Sarg zusammen stehen, haben die letzten Stunden miterlebt. Sie haben sich etwas zu sagen, sie schauen dem Tod mitten ins Gesicht statt weg.

Diese letzten Wochen, Tage, Stunden seien immer wieder von einer solchen Wucht, dass sich da Menschen wieder zusammen finden, die sich vor Jahren trennten und sich geschworen hatten, sich nie wiederzusehen. Wirft der Tod seinen Schatten voraus, springen Viele über ihren eigenen.

Das mit der Verdrängung

Wer das Leben geniessen wolle, könne den Tod nur verdrängen, denn das Leben zu geniessen im Bewusstsein der Endlichkeit, sei unmöglich: Diesen Zirkelschluss geht Decker nicht mit. Das Bewusstsein der Endlichkeit trenne Wesentliches von Unwesentlichem.

Decker arbeitet in der Onkologie, er hat Menschen in ihren letzten Tagen erlebt, die gerne lebten, mit einem «Erleben von Tiefe, Wahrheit und Dankbarkeit», das sie vorher nicht gekannt hatten. Gibt man die Todesverdrängung erst mal auf, dann sieht Decker im vollen Bewusstsein der Endlichkeit erst die Chance, sich eine bestimmte Frage neu zu stellen: «Wie will ich mich eigentlich entwickeln – als Mensch?» Das ist eine Frage, die für das Leben gilt – von Anfang an. Am Ende ist es zu spät.

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