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Der Archivar Die Finnen sind der Wilhelm Tell des Nordens

Am 2. April 1948 berichtet die Schweizer Filmwochenschau über eine gigantische Hilfsaktion für Finnland. Die Schweizer Bevölkerung hat in einer beispiellosen Aktion einen astronomischen Betrag gespendet. Woher die Sympathie für «dieses tapfere Volk, das der Krieg so schwer geschlagen hat?»

Archivperlen

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Das Archiv von SRF ist ein fulminanter Fundus, ein audiovisuelles Gedächtnis, in Schwarz-weiss oder Farbe, analog oder digital. Wichtiges und Unwichtiges, Überholtes und allzeit Gültiges, Alltag und grosse Weltgeschichte.

Im Player von SRF sind eine Vielzahl von «Perlen», die Ihnen online zugänglich sind sowie im Archivkanal auf Youtube.

1948. «Hilfe für Finnland», titelt die Wochenschau. Der Kommentar ist sachlich. Normalerweise. Hier nun alles anders. Der Sprecher: engagiert. Die Sympathie für das finnische Volk ist kaum zu überhören. Bilder eines zerstörten Landes. Der Text ist ungewohnt pathetisch, wenn er vom Wiederaufbau Finnlands nach Ende des Zweiten Weltkriegs berichtet: «Die finnische Erde wird wieder Ähren tragen, aber sie trägt auch unzählige Kreuze.» Geholfen werde den Bedürftigen, «die nichts von ihrer Not verraten wollen.» Eine Wochenschau, emotional, mit dramatischer Musik unterlegt.

Die Hilfsaktion der Schweizer Bevölkerung, über die berichtet wird, ist beispiellos. Das hat seinen Vorlauf. Der beginnt im Winter 1939. Russland überfällt das kleine Finnland.

Der finnische David gegen den russischen Goliath

Der Historiker Andreas Rüdisüli hat über dieses Thema geforscht. Er sagt, da sei eine gigantische, technisch hochmoderne, russische Armee auf eine kleine, technisch veraltete, schlecht ausgerüstete Armee losgegangen. Die war auf Skiern gegen Panzer unterwegs, Material wurde auf Rentieren transportiert. Die Tarnkleidung im Winter 1939 bestand aus weissen Bettlaken.

Was dem kleinen finnischen David passiert im Kampf gegen den russischen Goliath, interessiert die Schweizer Armee. Sie entsendet einen militärischen Beobachter: Gubert von Salis. Der wird bis in das Hauptquartier der finnischen Armee vorgelassen. Geheim.

Das mag daran liegen, dass der finnische Oberbefehlshaber, Marschall Mannerheim, die Schweiz gut kennt und langjährige Beziehungen pflegt. Er ist aufgeschlossen, hat das «Journal de Genève» abonniert.

Mannerheims Armee leistet Widerstand, die Verluste auf beiden Seiten sind immens: In diesem «Winterkrieg» verlieren die Finnen einen Fünftel ihrer Armee: Tote, Verwundete, Gefangene. Die Verluste auf russischer Seite seien zahlenmässig noch höher gewesen, sagt Rüdisüli.

Der Wilhelm Tell des Nordens

Eine Solidaritätswelle bricht los, denn die Parallelen sind offensichtlich: Beide Länder haben eine kleine Bevölkerung, sind neutral, demokratisch, militärisch unterlegen gegenüber einer totalitären Übermacht. Die Schweiz identifiziert sich mit dem Wilhelm Tell des Nordens. Das passt alles hervorragend in die Zeit der geistigen Landesverteidigung.

Interessanterweise fällt der Name Tell während der Kampagne nicht – es wird immer von Brudervolk oder Schwesternation, welche die gleichen Werte teilt und verteidigt, gesprochen.

Hilfsaktionen werden ins Leben gerufen. Rüdisüli sagt, in der Schweiz seien vier Millionen Franken gesammelt worden. Das entspricht heute etwa dem 20-fachen. «Unvorstellbar», sagt Rüdisüli. Es gibt Spendenaufrufe, Zeitungen drucken diese unentgeltlich, das politische Departement steht der Kampagne sehr positiv gegenüber, ein Hilfswerk wird gegründet, im Hallenstadion gibt es einen Anlass, um Geld zu sammeln, da kommen 8000 Menschen und 1300 Akteure sind auf der Bühne. Eine PR- und Hilfsaktion, die Politik, Bevölkerung und Medien gleichermassen ergreift. Nach dem Krieg wird diese Hilfe fortgesetzt. Der Wochenschaubericht entsteht in diesem Geist einer solidarischen Verbundenheit, die bereits jahrelang andauert.

Die Freundschaft wirkt nach bis heute

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Freundschaft beider Völker nicht beendet. Am 20. Dezember 1946 wird die «Schweizerische Vereinigung der Freunde Finnlands» gegründet.

Der amtierende Zentralpräsident Christoph Werner sagt, in der Nachkriegs-Generation hätte fast jeder einen finnischen Brieffreund gehabt. Seine Vereinigung betreibe Kulturförderung, «interkulturelle Verständigung». 1951 bekommt das Pestalozzi-Dorf in Trogen ein finnisches Haus. Auch politisch bleiben beide Länder verbunden.

Die Vereinigung der Freunde Finnlands hat in den 50er-Jahren für billige Flüge gesorgt, damit in der Schweiz lebende Finnen ihre Familien zuhause besuchen können, sagt Werner, «die Flüge haben nach heutigem Kurs 5000 Franken gekostet.»

Es gebe viele Ehen zwischen beiden Völkern, man habe finnische Schulen gegründet, die alle zwei Wochen Mittwochnachmittags in regulären Schweizer Schulen stattfinden, damit die Kinder von Finnischsprechenden ihre Sprache nicht verlieren und Brauchtum sowie Kultur kennenlernen. Es gibt Bibliotheken und Tourneen finnischer Künstler. 3000 Mitglieder zählt die Vereinigung heute. Nächstes Jahr wird sie 60 Jahre alt. Die Geschichte geht weiter.

Die Geschichte des finnischen Oberbefehlshabers, Marschall Mannerheim, endet 1951 am Ufer des Genfer Sees.

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