Als Samuel Beckett 1969 den Nobelpreis für Literatur erhält, gilt er als unpolitischer Autor. Mit metaphysischer Unschärfe habe er sich den zutiefst menschlichen Dingen genähert, ein bisschen Existenzialismus, Verschlüsseltes, Andeutungen. Das ist die lange gültige Lesart.
Die Wochenschau von 1969 zeigt ihn stumm und starr dasitzend, wenige Sekunden lang, als gehe ihn der Rummel nichts an. Man hat ihn in irgendeinem Hotel in Tunesien ausfindig gemacht.
Zur Nobelpreisverleihung in Stockholm erscheint er nicht, spendet das Geld und von einem kleinen Rest kauft er sich ein Telefon.
Wer war dieser Beckett? War er nur dieser eigenbrötlerische irische Schweiger mit dem grossen Hang zur schwebenden Andeutung? Ganz und gar unpolitisch?
Von heute aus gesehen
Oliver Lubrich ist Literaturwissenschaftler in Bern. Zusammen mit Mark Nixon editiert er bislang unveröffentlichte Tagebücher Becketts, die 2017 bei Suhrkamp erscheinen werden.
Lubrich verrät jetzt schon einmal so viel: Beckett sei 1936/37 für ein halbes Jahr durch Nazideutschland gereist, er habe dort «Faschismus im Selbstversuch» erfahren wollen. Er habe sich in Museen die Bilder zeigen lassen, die offiziell als «entartet» galten. Das war gerade noch möglich, eine kurze Zeit lang.
Er habe Deutsch gelernt. Und einen Versuch gestartet: Er führt ein ins Unreine geschriebenes Reisetagebuch, ad hoc Aufzeichnungen. Ein «Schreiben ohne Stil» , wie Mit-Herausgeber Mark Nixon das nennt. Herausgekommen, sagt Lubrich im Interview, sei «ein politisch scharfer Blick auf den sich konsolidierenden Faschismus mit all seiner Propaganda, Selbstinszenierung und trügerischen Ordnung.»
Die Rohfassung einer Reportage. Mit dem Bild des unpolitischen Beckett hat das wenig gemein. Beckett bricht den Laborversuch nach einem halben Jahr angewidert ab und kehrt nach Irland zurück.
Beckett geht zum Krieg hin
1940 marschieren die Nazis in Frankreich ein. Beckett sitzt wohlbehütet in Dublin. Was macht er? Beckett reist nach Paris. Wieder in eine «Extremsituation», wie Lubrich das nennt. Er könne sich gut vorstellen, «dass die Monate in Nazideutschland dazu den Grundstein gelegt haben.»
Beckett geht zum Krieg hin. Die ersten Freunde verschwinden. Unter ihnen einer seiner Liebsten, sein Freund und guter Geist Alfred Péron. Beckett bleibt in Paris. Die offizielle Geschichtsschreibung setzt aus.
Jahre später erfährt man, dass sich Beckett 1940 der Résistance anschliesst. Seine Widerstandszelle in Paris heisst Gloria. Sie wird verraten.
Fast alle werden erwischt und deportiert, zwei entkommen der Gestapo knapp: Beckett und seine Lebensgefährtin Suzanne. Sie fliehen nach Südfrankreich.
Die Tabori-Geschichte
Der grosse Regisseur George Tabori inszeniert 1984 an den Münchner Kammerspielen «Warten auf Godot». Während der Vorbereitung hat er Beckett getroffen. Der habe wie immer geschwiegen.
Tabori habe ihn gefragt, ob er in der Résistance gewesen sei. Keine Reaktion. Tabori fragt, ob er von einem Attentat wisse, bei dem zwei Nazis getötet und einer schwer verletzt worden sei. Keine Reaktion. Tabori fragt, ob es drei gute Gründe gegeben habe, nach Südfrankreich zu gehen. Beckett habe genickt.
Diese Geschichte ist unbestätigt. Ob Becketts Résistancezelle Attentate verübt hat, ist unklar.
Weintrauben und ein Waffenlager
Fakt ist, Beckett flieht mit Suzanne in einen kleinen Ort in der Vaucluse. Genau dorthin, wo Godot spielt. Wie die Flucht genau gegangen ist, hat Becketts Biograf James Knowlson letztes Jahr im «Independent» beschrieben.
Ebenso, wer sehr wahrscheinlich der Verräter gewesen sei. In der Vaucluse betreut Beckett ein Waffenlager der Résistance, ansonsten pflückt er Weintrauben. Sein Führungsoffizier erklärt, man habe Beckett vieles nachsagen können, Redseligkeit sei nicht darunter gewesen.
Sendungen zum Thema
Beckett und Susanna wollen raus aus Frankreich und warten auf einen Schleuser, der nicht kommt. Sie haben die Gestapo hinter sich und einen Schleuser vor sich, von dem unklar ist, ob er sie nicht schon längst an die Nazis verpfiffen hat und in eine Falle locken wird.
Nach dem Krieg
Beckett erhält zwei französische Orden, die er lange Zeit verschweigt: zum einen das «Croix de Guerre avec l'étoile d'or» und die «Médaille de la Résistance». Letztere bekommt man für aussergewöhnliche Verdienste im Widerstandskampf gegen die Nazis.
Beckett hat einmal gesagt, er habe nie für eine grosse Sache gekämpft, auch nicht für Frankreich. Alles, was er getan habe, habe er für die Menschen getan, die ihm nahestanden.
«Godot» kann man neu lesen. Langweilig ist anders.