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Der Archivar Eine Nation wird zu Pendlern

25. Januar 1971: Die Sendung «Antenne» porträtiert einen Pendler. Der ist damals noch ein «unbekanntes Wesen». Jeden Tag fährt der Porträtierte von Dietikon nach Zürich zur Arbeit – sage und schreibe zwölf Kilometer. Das ist so aussergewöhnlich, dass es einen Bericht wert ist. Tempi passati.

1971. Portrait eines Pendlers aus Dietikon. Die «Antenne» zeigt seinen Arbeitsweg und ab Erreichen des Büros eine Parallelmontage: Während der Mann im Büro auf Englisch telefoniert, gehen seine Frau und sein Kind «ins Zentrum», um einzukaufen. Ein langer Schwenk, Dietikon im Nebel, im Vordergrund etwas Schnee, dazu Easy-Listening-Musik der Zeit. Selten hat man Trostloseres gesehen.

Pendeln ist in den 1960er- und 1970er-Jahren die Ausnahme. Heute pendeln neun von zehn Angestellten. Neun von zehn! Was ist in 45 Jahren passiert?

Der Pendler – der Exot

Archivperlen

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Das Archiv von SRF ist ein fulminanter Fundus, ein audiovisuelles Gedächtnis, in Schwarz-weiss oder Farbe, analog oder digital. Wichtiges und Unwichtiges, Überholtes und allzeit Gültiges, Alltag und grosse Weltgeschichte.

Im Player von SRF sind eine Vielzahl von «Perlen», die Ihnen online zugänglich sind sowie im Archivkanal auf Youtube.

Ein weiterer Beitrag der «Antenne» beschreibt die Situation im Kanton Schwyz. Ein Angestellter findet in seinem Beruf keinen Job vor der Haustür und wird in Zürich fündig. Er ist bei weitem nicht allein: Knapp 6500 pendeln aus dem Kanton Schwyz täglich in Richtung Zürich, Zug, Luzern. Der Wirtschaftsraum Zürich hat Anziehungskraft und ist halbwegs nahe gelegen. Der Kanton Schwyz kann da nicht mithalten.

Eine Zugfahrt nach Zürich dauert zwar noch 45 Minuten, das wird sich ändern und schneller gehen. Die Autobahn N3 wird ausgebaut, das macht den Ballungsraum Zürich auch mit dem Auto schnell erreichbar. Das S-Bahnnetz wird folgen und legt den Grundstein für eine Entwicklung, die heute manifest ist: In der Grossstadt arbeiten, in «Schlafstädten» wohnen. Ein vernichtender Begriff aus der Zeit. Arbeit wird zum Rohstoff: Man geht dorthin, wo man sie findet. Was heute ganz normal ist, beginnt damals.

Leere Strassen zu Stosszeiten

Pendeln wird schrittweise zum Massenphänomen. Man beginnt sich zu organisieren: In Zollikon hat einer die intelligente Idee ( Antenne, 9.3.1967 ), Fahrgemeinschaften zu bilden. Gerade mal 45 wollen da mitmachen.

Am liebsten fahren damals alle mit dem Auto – allein. Von Rush-Hour und allmorgendlichem Stau weiss man noch nichts. Viele Jahre später wird der Troubadour Elritschi an dieses goldene Zeitalter der leeren Strassen mit seinem «Pendler-Song» erinnern. Auch Grenzgänger gibt es damals schon ( Antenne, 22.5.1973 ), aber nur wenige.

Und heute?

Was damals die Ausnahme ist, machen heute tagtäglich 3,8 Millionen Menschen. Wenn heute die SBB den Fahrplan umstellt, betrifft das eine ganze Nation. Viele, die heute S-Bahn fahren, wissen kaum, dass es ein funktionierendes S-Bahn-Netz vor 40 Jahren noch nicht gab. Heute gibt's Fahrgemeinschaften, Tageszeitungen für Pendler, Pendler-Kolumnen. Eine ganze Nation pendelt: Im Verhältnis zu unserem Pendler aus den 1970er-Jahren haben sich die Verhältnisse umgekehrt: Wohl dem, der heute noch zuhause arbeiten kann.

Beiträge zum Thema

Männer pendeln länger als Frauen, die Meisten fahren immer noch mit dem Auto. Wieviel sich verändert hat, zeigt der SRF-Programmschwerpunkt «Glückliche Pendler» mit allen Fakten und Zahlen. Berufsalltag und Familienleben waren noch nie so getrennt voneinander wie heute, räumlich und sozial. Die Tagesschau berichtet am 25.11.2015 über die, die aus London oder Athen angeflogen kommen, um in der Schweiz zu arbeiten: moderne Teilzeit-Nomaden.

Laure Wyss' gespenstischer Referenzpunkt

Das Archiv hält noch einen ganz anderes Dokument bereit: Laure Wyss, die Schweizer Schriftstellerin, realisiert Anfang der 1960er-Jahre einen Film-Essay . Mit ihrem gewohnt genauen Blick für (zwischen-) menschliche Phänomene. Sie beschreibt die sich verändernden ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und deren Auswirkungen aufs Soziale: Laure Wyss entdeckt da etwas damals Neues: die Einsamkeit in der Masse.

Wie wahr dieser Beitrag ist, zeigt sich, wenn man ihn anschaut und dann mitten in die tausenden Gesichter schaut, die einem Morgens und abends begegnen. Die stumm in S-Bahnen sitzen. Pendeln ist die Zeit zwischen zwei Leben, zwischen Arbeit und Zuhause, zwischen Work und Life, ein Transit-Raum. Wenn man Laure Wyss' Beitrag sieht, wird der zu einem gespenstischen Referenzpunkt. Von ihm aus gesehen, schaut man anders auf’s Heute. Sehen Sie selbst.

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