Elias Canetti wurde am 25. Juli 1905 in Bulgarien als Sohn einer sephardisch-jüdischen Familie geboren. Weltbürger – notgedrungen. Ende der 60er-Jahre kehrte er in die Schweiz zurück, wo er von da an lebte. Zürich wurde seine letzte Station, 1994 starb Canetti.
Jeden Samstag ging er die Klosbachstrasse runter. Als hätte er einen festen Termin, jeden Samstag so gegen 11, auf jeden Fall vor Mittag. Man hätte die Uhr nach ihm stellen können, und Damen im besten Alter, hinter der Schaufensterscheibe der Bäckerei am Kreuzplatz stehend, taten das auch.
Der personifizierte Stil
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Im grau melierten Mantel, Anzug, überwiegend dreiteilig, seine Frisur eine Legende, die Brille, das ganze Tenue, war dieser eher kleine Mann eine grosse Erscheinung. Und so ging er zum orangen Riesen und kaufte ein: Fisch. Und die Frauen hinter der Theke illuminierten selig, denn da kam der personifizierte Stil durch die elektronische Schiebetür, ein Benehmen, ein Auftreten aus einer anderen Zeit und Welt.
Er bestellte mit dieser ihm eigenen seltsamen Stimme, die mehrere Lagen zu haben schien: die konnte tief und warm sein, metallisch brechen, und sie konnte ganz hell und mit viel Luft sein. Als würde er, Canetti, nur noch staunen. Und sie hatte einen ganz eigentümlichen Duktus: Sie wechselte ansatzlos zwischen tastendem Sprechen beim Denken und der ultimativen Bestimmtheit. Jeder Satz der Weg in die Klarheit, jeder Satz die Suche nach dem treffendsten Wort.
Der lebenslange Kampf gegen den Tod
Canettis Leben ist reich an Schicksalsschlägen, er verlor fast alle, die er liebte. Der erste grosse Verlust seines Lebens ist der frühe Tod seines Vaters. Wie Canetti das erzählt in gerade mal fünf Sätzen, wie er ganz am Schluss nach einem Wort sucht und es findet. Dieses eine Wort öffnet dann eine ganze Welt, das beschreibt etwas Wesentliches seiner Literatur: Ein Canetti-Satz geht nur so und nicht anders.
Obwohl heute die politischen und wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse gänzlich andere sind, kennen nicht viele Elias Canetti. Den zwar noch mehr besitzen, aber kaum gelesen haben – so wie «Ulysses» oder «Berlin Alexanderplatz». Und noch mehr haben ihn in früh adoleszenten Tagen gelesen – vielleicht die «Gerettete Zunge» oder «Fackel im Ohr» – aber wieder vergessen.
Canetti heute – wenn nicht jetzt, wann dann?
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Canetti ist jemand zum Entdecken oder zum Wiederentdecken: Sein bekanntestes und zugleich umstrittenstes Buch «Masse und Macht» stellte 1960 Fragen, die auf persönliche Erlebnisse Canettis von Massenbewegungen aus den 20er-Jahren zurückgingen und die bis heute Gültigkeit haben.
Die Fragen gelten, sei es nun politisch oder kulturell oder – was er so nicht voraussah – auf unsere von Medien durchdrungene Gegenwart bezogen: Wie verhält sich das Individuum zu Masse? Wie verändert sich der Einzelne, wenn er tausendfach auftritt? Die Vermassung des Individuums, die janusköpfige Kraft einer Bewegung, das waren seine Themen. Ebenso die Frage nach Führung, immer wieder zu beobachten in allem politischen Frühling und eben auch Canettis Frage nach der Steuerung und Manipulation von Massenphänomenen.
Canettis Vorhersehung
Nach Canettis Ansicht strebe die Masse nach Grösse, nach Dichte, in ihr herrsche Gleichheit, sie brauche eine Richtung und die gebe sie sich zumeist selber. Canetti bestritt die Wirkung charismatischer Führer für das Wachsen der Masse, er sah die Führer vielmehr getragen oder von der Masse vor sich her geschoben. Die Masse organisiere sich erst einmal selbst und sei sich selbst genug. Canetti bietet verblüffende Beschreibungsansätze für die Gegenwart, egal welcher «politische Frühling» es auch sein mag.
Alle Bewegung der Masse strebe auf «Entladung» zu, Trennungen würden «abgeworfen», in der Masse fühlten sich «alle gleich» gemäss der Devise: gemeinsam sind wir stark. Die Live-Übertragungen aktueller Demonstrationen erscheinen als Bebilderung von Canettis Text: mit 53 Jahren Verspätung.
Canetti beschrieb das Web 2.0 – unbewusst
«Umkehrmasse» nennt Canetti die umstürzende Kraft der Masse, in ihr verliere der Einzelne das, worauf Macht, totalitäre sowieso, einzig basiere: die Angst. Und all das ohne Führerperson. Bestenfalls mit ein paar Organisatoren, die bündeln, kommentieren, eine Richtung geben.
Canetti hatte nicht die leiseste Ahnung, welche technologischen Möglichkeiten das Web 2.0 vorsieht, was ihn aber nicht daran gehindert hat, es präzis zu beschreiben: alles Bloggen, Twittern, Kuratieren steht zwischen den Zeilen bei Canetti. Es ist die weiseste Vorausschau einer Masse, die sich selbst digital organisiert, die lernt, neue Strategien entwickelt – sei es nun bei popkulturellen Flashmobs oder bei politischen Umstürzen.
Wir sind das Volk
Was gegenwärtig so ganz nebenbei mitverhandelt wird, ist die Grundfrage, welche Chance eine starre hierarchische Despotie gegen eine agile auf Kooperation basierende Bewegung überhaupt noch hat, eine Bewegung, die man nicht mehr stoppen kann, indem man die Führung eliminiert, kaltstellt. Es gibt sie nicht, diese Führung: Es sind Millionen – manchmal ist es das Volk.
Wer im bevorstehenden oder bereits angebrochenen Sommerurlaub zweitausend Seiten Zeit hat, könnte den Versuch unternehmen, Elias Canettis «Masse und Macht» und Michel Foucaults «Überwachen und Strafen» oder «Gouvernementalität» zusammen zu lesen. Lektüren, die die Zukunft aus der Gegenwart der Vergangenheit erschliessen.