Der Vorgang ist einmalig in der deutschen Politik: Ein demokratisch gewählter Bundeskanzler wird gestürzt. Die Debatte, die dem Sturz vorausgeht, ist die leidenschaftlichste, verletzendste, hasserfüllteste, die die deutsche Nachkriegsdemokratie je gesehen hat. Was ist geschehen?
Schwere Zeiten stehen bevor
Sechs Jahre zuvor. 1976. Bei der Bundestagswahl bekommt die CDU mit Helmut Kohl die meisten Stimmen. Kommt aber nicht an die Regierung. Die FDP unter Hans-Dietrich Genscher geht lieber mit der SPD unter Helmut Schmidt zusammen. Die FDP ist das Zünglein an der Waage.
Die Bundesrepublik hat schwere Zeiten vor sich. Terroristen ermorden Exponenten der Wirtschaft und Justiz. Anti-Terrorismus-Gesetze werden erlassen. Viele sehen diese kritisch. Die Überwachung der Bürger wird zum Thema. Wer Kritik äussert, wird als «Sympathisant» der Terroristen bezeichnet. Das Urteil trifft auch weltbekannte Autoren wie Heinrich Böll.
Null Bock
Schmidt setzt sich für die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden ein. Die Friedensbewegung wird gegründet. Schmidt ist der Gegner. Ein grosser Teil der Jugend hat «null Bock», so die Wendung zur Stunde, auf Atom: egal ob in Reaktor oder Rakete. Die Ölkrise beutelt die Wirtschaft.
Vier Jahre später. 1980. Die FDP zieht mit dem Slogan in den Wahlkampf: «Für die Regierung Schmidt-Genscher.» Die Rechnung geht auf. SPD und FDP gewinnen.
Die nächste Krise
Die Zeiten werden nicht besser. Die zweite Ölkrise kommt. Die Arbeitslosenzahlen erreichen erstmals 2 Millionen. Die Stimmung gegen die atomare Aufrüstung ist auf dem Höhepunkt. Schmidt will ein Beschäftigungsprogramm durchsetzen. Um Druck zu machen, knüpft er den Gesetzesentwurf an die Vertrauensfrage. Wer sich traut, dagegen zu stimmen, ist auch gegen ihn als Kanzler. Am 3. Februar 1982 geht der Entwurf durch. Schmidt ist gerettet. Vorerst.
Der Königsmord wird vorbereitet
Insider sagen, hinter den Kulissen habe es bereits da Gespräche gegeben zwischen Genscher von der FDP und Kohl von der CDU. Der Wechsel wird vorbereitet.
Sommerpause. Genscher und Schmidt treffen sich privat. Schmidt sagt 30 Jahre später, dass bei diesem Treffen das Auseinanderbrechen der Regierung klar gewesen sei.
17. September: Die FDP bittet den Bundespräsidenten, ersten Mann im Staat, die FDP aus der Regierung zu entlassen. An diesem 17. September hat Schmidt, der amtierende Kanzler, keine Mehrheit mehr. Das Land ist unregierbar.
Der Königsmord wird live übertragen
1. Oktober 1982. Eine Sondersendung startet am Morgen. Der Kanzler soll an diesem Tag gestürzt werden. Artikel 67 des deutschen Grundgesetzes sieht das vor: «Konstruktives Misstrauensvotum». Gesetzeskonform. Aber schmutzig. Finden einige. Hinter den Kulissen hat die FDP-Spitze Druck gemacht, Schmidt fallenzulassen. Aber nicht alle wollen sich dran halten. Von Moral ist die Rede. Eine Politikerin sagt, es sei anrüchig, dass Schmidt gestürzt werden solle. Ohne die Zustimmung des Volkes! Und Helmut Kohl Kanzler werden solle. Ebenfalls ohne die Zustimmung des Volkes.
Ein anderer Politiker kontert diese Ausführung als «Verfassungsbruch». Schmidt «rastet aus», würde man heute sagen: «Wenn die freie Meinungsäusserung einer Abgeordneten als Anschlag auf die Verfassung ...», hier wird er so vehement niedergebrüllt, dass er unterbrechen muss ... «Ich will nur drei Sätze sagen... » Unterbruch. Schmidt schreit: «Noch habe ich das Recht, hier zu sprechen ...»
Schmidt kann das Misstrauensvotum nicht verhindern. Schmidt wird abgewählt. Und Helmut Kohl Kanzler.
Und heute?
Die FDP war noch lange an der Regierung. Heute verschwindet sie. Helmut Kohl ist eingegangen in die Geschichtsbücher – als der «Kanzler der Wiedervereinigung und der blühenden Landschaften». Schmidt sagt, der habe nur fortgeführt, was vor ihm begonnen wurde.
Helmut Schmidt geht heute auf die 100. Zwei Drittel der Deutschen schätzen ihn. Das heisst Einiges, denn Schmidt konfrontiert, provoziert, polarisiert. Schon immer – noch immer. Er ist der Kettenraucher, nein, eigentlich ist er Überzeugungsraucher. Filter Menthol. Die steife Brise aus der Lunge. Wer ihn interviewen will, kann schon mal den Aschenbecher aufstellen.
Hanseat. Intellektuell. Arrogant. «Schmidt-Schnauze»: Immer gut für Klartext und Druckreifes. Charismatisch. Mann mit vielen Seiten. Spielte auch schon mal Flügel. In Zürich – Tonhalle. Schillernde Figur.
Er hat Geschichte geschrieben und dann hat sie ihn geschrieben, an jenem 1. Oktober 1982. An dem Tag starb in Deutschland ein politischer Stil. Der hatte etwas, das in Vergessenheit geriet. Man nannte es: Klasse.