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Der Archivar Robert Jungk: «Es ist, als ob die Welt zerreisst»

Er hat die Explosion einer Atombombe miterlebt: «Der Wendepunkt in meinem Leben». Er wird zum wegweisenden Zukunftsforscher: Hiroshima dürfe sich nie wiederholen. Dazu brauche es andere Menschen. Jungks Vision von diesem Menschen – dem «Jahrtausend Menschen» – ist 40 Jahre alt und unsere Gegenwart.

1973 erscheint Robert Jungks Buch «Der Jahrtausend Mensch». Im gleichen Jahr gibt er ein Interview, Anfang Dezember steht er vor Tinguelys «Heureka» am Zürichhorn.

Er spricht über den modernen Menschen an der Wende zum dritten Jahrtausend, dem dieses alte Medium Fernsehen mit seiner kommunikativen Einbahnstrasse einfach zu wenig ist, der antworten will und wird, der sich vernetzen und formieren wird. Was Jungk im Nebensatz fallen lässt, nimmt genau das vorweg, was wir heute mit sozialen Netzwerken meinen.

Buchhinweise

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«Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher», Reinbek 1988

«Der Jahrtausend Mensch. Bericht aus den Werkstätten der neuen Gesellschaft», München 1973

«Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit», München 1977

«Zukunft zwischen Angst und Hoffnung», München 1990

«Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft», München 1993

Als Jungk das sagt, ist er 60 Jahre alt und der wegweisende Zukunftsforscher seiner Zeit. Dahinter steht ein Leben, das wechselvoller kaum sein könnte: Am 11. Mai 1913 als Kind jüdischer Eltern in Berlin geboren. Geht zur Schule, aufs Mommsen-Gymnasium. Im Alter von 20 Jahren wird er in der Nacht des Reichstagsbrandes Ende Februar 1933 von den Nazis verhaftet. Einen Tag später kann er mit Hilfe eines Freundes entkommen. Eigentlich ein Wunder. Emigriert über Paris in die Schweiz, studiert in Zürich Geschichte und beginnt für Schweizer Zeitungen zu schreiben. Unter Pseudonym. Eine Arbeitserlaubnis hat er nicht.

Er wird in den folgenden Jahren Korrespondent für diverse Zeitschriften und Radiosender – vom Londoner «Observer» bis hin zur Zürcher «Weltwoche» – und arbeitet auch für die deutschen Sendungen der «Stimme Amerikas».

«Der Wendepunkt in meinem Leben»

1953 sendet er vom amerikanischen Testgelände in der Wüste Nevadas eine Radioreportage über einen Atombombentest: «Das war der Ton der neuen Zeit, ein dumpfes Brüllen, ein fernes Brüllen». Er bezeichnet diesen Moment als «Wendepunkt in meinem Leben».

Nicht dieser Ton sei das zutiefst erschreckende und verstörende gewesen sondern der Blitz, der dem Grollen folgt: «als ob die Wirklichkeit zerreisst, als ob die Welt zerreisst».

Jungk beginnt mit Recherchen über die Atomkraft, besucht auch Hiroshima. Er habe als Erinnerungsstücke zusammengeschmolzene Steine in die Hosentasche gesteckt. «Blödsinnig», sagt er, aber so wenig habe er zu Beginn gewusst. Zwei Jahre später weiss er mehr. 1956 erscheint sein Buch «Heller als tausend Sonnen» und wird zum Welterfolg, zum Standardwerk und Klassiker der Anti-Atomkraft-Bewegung, die es erst Jahre später geben wird. Wenn Jungk etwas kontinuierlich war, dann seiner Zeit weit voraus.

Und das war er nicht nur auf der inhaltlichen Ebene: nicht nur mit seinen vehementen Warnungen vor der Macht und Kraft der Atomindustrie, mit seiner Warnung vor dem unverantwortlichen Umgang mit Ressourcen, der ihm den alternativen Nobelpreis einbrachte. Auch auf der prozessorientierten Ebene war Jungk seiner Zeit weit voraus: ihm schwebte ein vollends anderes Verhältnis zwischen Bürgern und Staat vor.

«Betroffene zu Beteiligten machen»

Robert Jungk am 31.3.1986 als einer der Hauptredner am Ostermarsch in Basel auf dem Podium vor vollbesetztem Saal.
Legende: Robert Jungk am 31.3.1986 als einer der Hauptredner am Ostermarsch in Basel. Keystone

Eine seiner Thesen lautet: «Die parlamentarische Demokratie allein ist nicht mehr in der Lage, jene kritische Öffentlichkeit herzustellen, die nötig ist, um auf Gefahren möglicher Fehlentwicklungen hinzuweisen und Kurskorrekturen in die Wege zu leiten. Politische Parteien sind häufig mit den Interessen von Wirtschaftslobbys verstrickt, was deren Fähigkeit zu kritischer Distanz unterminiert. Eine neue politische Kraft, der diese Aufgabe zukommt, ist in den sozialen Bewegungen, den Bürgerinitiativen und der Zivilgesellschaft auszumachen».

Er will Bürger direkt beteiligen an dem, was er «kreative Zukunftsgestaltung» nennt. Sein Slogan «Betroffene zu Beteiligten machen» ist zum geflügelten Wort und Konzept geworden. Er spricht als erster von «Netzwerken» zur systematischen Gestaltung von Zukunft und entwickelt ein Modell, bekannt geworden unter dem Schlagwort «Zukunftswerkstatt».

Und heute?

Jungk erscheint tagesaktuell. Es ist nur schwer vorstellbar ist, dass seine Texte teilweise mehr als 40 Jahre alt sind. Er hat vieles von dem beschrieben, was wir heute als partizipative Strukturen einer aktiven Zivilgesellschaft bezeichnen, eine Bürgerschaft mit einem gehörigen Anteil an Selbstorganisation. Er hat soziale Netze beschrieben, lange bevor es sie gab.

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Wirtschaftskritische Strömungen wie «Attac» oder «Occupy» hat er ebenso vorweg genommen wie etwa «whistle blower»: «Um eine transparente, demokratische Auseinandersetzung mit Grosstechnologien zu ermöglichen, braucht es insbesondere Menschen aus dem ‹System›, die auf die verschwiegenen Schattenseiten, Risiken und Unwägbarkeiten der modernen Grosstechnologie hinweisen». Das schrieb er 1973. Da war Edward Snowden noch nicht mal geboren.

Robert Jungk heute im Zeitalter des «Jahrtausend Menschen» zu lesen ist, als entdecke man in dem, was er vor 40 Jahren «Zukunft» nannte, die Gegenwart neu.

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