Der Mensch in der schnelllebigen Zeit sei vielen Veränderungen ausgesetzt, die nach Anpassung verlangen, heisst es im Beitrag der «Perspektiven» von 1974. Tempo, Leistungsdruck, das Arbeiten in einer hierarchischen Welt, in der Arbeit keine «echte Befriedigung bringt», seien Faktoren für den Konsum von Tranquilizern für alle, die nervös und abgekämpft sind.
Tranquilizer finden damals – kurz nach ihrer Markteinführung – rasenden Absatz, wie die Sendung «Antenne» berichtet. Darin gibt ein Manager an, er nehme täglich Valium. Danach ist «er der Umwelt und ihren Problemen wieder gewachsen», heisst es im Beitrag. Über Wirkung und Nebenwirkung weiss man damals vergleichsweise wenig.
Und heute?
Marcus Herdener ist Leiter des Zentrums für Abhängigkeitserkrankungen an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Er konstatiert, dass damals, Mitte der 1970er-Jahre, «die aktuelle Situation als besonders stressig beschrieben wird in der subjektiven Wahrnehmung. Das würde sich heute ähnlich anhören.» Das ist also gleich geblieben.
Verändert hat sich:
- Das Wissen um die Wirkung der Benzodiazepine (in diese Medikamentengruppe gehören die Tranquilizer) ist heute wesentlich grösser.
- Marcus Herdener: «Über die Schattenseiten, die Abhängigkeiten und Langzeitfolgen weiss man heute viel besser Bescheid. Eine Substanz ohne Risiko gibt es nicht. Man muss die Wirksamkeit kennen und sich der Nebenwirkungen bewusst sein.»
- Die Tranquilizer haben zusammen mit anderen Psychopharmaka «das Gesicht der Psychiatrie» verändert, von Wasserbädern, Insulinkuren habe man sich weitgehend verabschieden können.
- Wesentlich differenzierter und präziser ist heute die Diagnostik und die Vielfalt der psychotherapeutischen Massnahmen: «Man ist heute in der Lage, eine individualisierte Therapie zu verordnen, die aus einem Fundus von Interventionen schöpft. Ärzte sind heute diesbezüglich besser ausgebildet.»
Die mediale Bewirtschaftung
Sendungen zum Thema
Heute seien viele Menschen auf Psychopharmaka angewiesen, um überhaupt noch durch den Tag zu kommen, ist immer wieder zu lesen. In diesem Zusammenhang geht es Herdener um ein differenziertes Bild, wenn man über die Benzodiazepine spricht: Erstaunlich sei, so Marcus Herdener, dass die Zahlen im Grossen und Ganzen konstant geblieben seien.
Zehn Prozent der Verschreibungen gehen in der Schweiz auf das Konto der Benzodiazepine, das sind Zahlen aus dem 2007. Man könne da «kaum von einer neuen Epidemie sprechen. Es gibt heute keine allgemeine Bereitschaft, sich zu dämpfen, vielmehr ist die Debatte ideologisch aufgeladen. Die mediale Berichterstattung und die vorliegenden Daten passen nicht zusammen.»
Mutters kleiner Helfer
Popkulturell wurden die «Glücklichmacher» immer wieder als weitverbreitetes Phänomen dargestellt: 1966 texten die Stones in «Mother's Little Helper»:
And though she's not really ill, there's a little yellow pill She goes running for the shelter of a mother's little helper And it helps her on her way, gets her through her busy day.
Valium wird zu diesem kleinen Helfer, zur «Sonnenbrille für die Seele», wie es im Beitrag der «Perspektiven» heisst. Der Stones-Song taucht übrigens in der TV-Serie «Desperate Housewives» 40 Jahre später auf.
Herdener bestätigt: Frauen nehmen zwei Drittel der Benzodiazepine. Die meisten werden von Menschen über 65 genommen. Aus «Mother’s Little Helper» ist «Grandmother’s Little Helper» geworden.
Das Klischee der Glücksdroge heute
Da ist noch ein anderes Klischee in der Popkultur: «Die Wolves of Wall Street» frühstücken Aufputscher und werfen Abends Tranquilizer ein, um wieder runter zu kommen. Herdener sagt: «Diese Patienten gibt es, das ist aber eine kleine Gruppe, Amphetaminabhängigkeiten gibt es.» – aber nicht als breites Phänomen.
Das Problembewusstsein sei heute grösser – auf beiden Seiten. Sowohl Patienten als auch Mediziner seien heute sensibilisiert: «Benzodiazepine helfen, die psychische Situation chemisch zu modulieren, sie sind aber keine nachhaltige Lösungsstrategie. Das wissen beide Seiten.»
Das körperliche und besonders das seelische Suchtpotential ist hoch – wie hoch, darüber berichtet «10vor10» am 15.2.2016 und zeigt, wie schwierig der Ausstieg sein kann.