Gian Töndury ist in den 1960er-Jahren Anatom und zeitweise Rektor der Universität Zürich. Er revolutioniert die Ausbildung junger Neurologen. Als einer der ersten erklärt Töndury die Funktionsweise des Gehirns – auch für Normalsterbliche im Schweizer Fernsehen: Bildungsfernsehen zur besten Sendezeit.
Heute, im Abstand von mehr als 50 Jahren, ist das überholt. Das ist kein Vorwurf, sondern liegt in der Natur der Sache.
Hirnforschung für Heimwerker
Töndury beschreibt das Gehirn als geordnetes Gebilde, klar strukturiert, hierarchisch geordnet, ein Bauplan für alle Modelle. Das klingt nach Mechanik: Wenn man die Einzelteile richtig zusammen baut, dann funktioniert das Ding auch. Wenn nicht – dann ist da «eine Schraube locker». Hirnforschung für Heimwerker.
Jahre später kommt eine neue Metapher: Das Hirn als Computer. Da sind wir in den 80er-Jahren. Beide, Hirn und Computer, haben eine Art Festplatte und einen Arbeitsspeicher, wenn der Schaltkreis funktioniert, läuft alles rund. Wenn nicht, dann ist die «Sicherung durchgebrannt».
Und heute?
Heute, 50 Jahre später, sei da «ein Quantensprung, etwas Revolutionsartiges» passiert, sagt Lutz Jäncke, einer der führenden Neurowissenschaftler im Interview.
Jäncke erinnert sich gut an die Zeit, als er als junger Medizinstudent Gehirne seziert: Er habe da immer nur am toten Objekt gearbeitet.
Dann aber kommt der Quantensprung, der Moment als Jäncke «seinem eigenen Gehirn beim Arbeiten zusehen kann»: Die modernen bildgebenden Verfahren kommen: Die Kernspinntomographie zeigt, wie das Hirn arbeitet, in Echtzeit!
Heute und viele Forschungsprojekte später habe er eine «Demut vor der Individualität» entwickelt. Denn die Ansicht, die Töndury noch hatte, das Gehirn sei bei allen Menschen mehr oder weniger gleich, ist hinfällig.
Das Gehirn baut sich permanent selbst um
Töndury kann zu seiner Zeit nur das Gewicht toter Hirne wiegen: Ein französischer Dichter hat ein leichtes, Immanuel Kant das schwerste. Männer haben mehr als Frauen im Oberstübchen, zumindest vom Gewicht her. Mehr lässt sich Anfang der 60er-Jahre nicht sagen.
Jäncke sagt heute, die Gehirne eines Golfers, eines Musikers und eines Handballers seien alle unterschiedlich. Jede Aktivität, die längerfristig betrieben werde, schlage sich erkennbar nieder. Man kann das Gehirn trainieren, wie einen Muskel. Diese nachgewiesenen individuellen Unterschiede sind ein Hauptunterschied zur Forschung in der Zeit Töndurys.
Das Gehirn arbeitet chaotisch
Töndury geht damals noch von einer weitgehenden Ordnung in den Gehirnaktivitäten aus. Jäncke weiss: Das Gehirn arbeitet vielleicht in einer Ordnung, aber sicher nicht in der, die man sich in den 60er-Jahren vorstellt. Es arbeitet nicht linear, sondern non-linear, chaotisch: «Selbst im Ruhezustand ist da die Hölle los. Das ist ein sich selbst organisierendes System.»
Es baue sich selber um, «es ist plastisch.» Und diese Entwicklung hört nicht auf, das Gehirn sei «dynamisch, ein Leben lang.» Das Gehirn «organisiert sich in Netzwerken.»
In den 60er-Jahren unternehmen Forscher noch den Versuch, bestimmten Arealen bestimmte Funktionen zuzuordnen. So unternimmt man den Versuch, ein Areal ausfindig zu machen, in dem das Böse steckt, salopp gesagt so etwas wie ein «Mörder-Areal». Auf solch ein Areal angesprochen, kann Jäncke sich nur schwer beherrschen: «Falsch!»
Neurologen gehen heute davon aus, dass das Zusammenspiel verschiedener Areale wesentlich entscheidender ist für die Funktion. Das Gehirn ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Areale zu bestimmen und zu sagen: «Da steckt das Gute und da das Böse» – solche Versuche sind weg vom Tisch. Unhaltbar.
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Die moderne Mathematik macht's möglich
Die modernen bildgebenden Verfahren hat die moderne Mathematik ermöglicht. Sie versetzt Mediziner überhaupt erst in die Lage, die ungeheuren Datenmengen zu verarbeiten, die auftreten, wenn das Gehirn arbeitet. Und wenn man das visualisieren will. Der Entwicklungsschritt der modernen Mathematik in den letzten 50 Jahren sei gigantisch, sagt Jäncke.
Der Mensch ist unberechenbar
In diese Rechenleistungen wird gegenwärtig viel Geld investiert, denn sie erlauben es, menschliches Verhalten zumindest ein paar wenige Sekunden im Vorhinein zu prognostizieren.
«Menschliches Verhalten hat unglaublich viele Freiheitsgrade», sagt Jäncke. Und deshalb lässt sich das so schwer berechnen.
Das sei bei einem einzigen Menschen schon nicht zu schaffen, geschweige denn bei einer grösseren Anzahl von Menschen in Interaktion.
Dem könne augenblicklich noch kein Algorithmus beikommen. Menschliches Verhalten sei im wahrsten Sinne des Wortes unberechenbar.
Noch.