Churchill landet am 23. August 1946 in Genf Cointrin. Um ein wenig Ferien zu machen. «Ein freundlich grüssender Feriengast», wie der Kommentator sagt, der «im dunklen Sommer 1940» Nazi-Deutschland die Stirn bot. Seitdem gelte er als derjenige, der «Europa vor dem Untergang bewahrt.»
Als Churchill in Cointrin landet, ist er nicht mehr der Premier des Empire. Er ist «nur» noch Oppositionsführer. Aber das interessiert niemanden. Churchill ist Kult. Würde man heute sagen. Er wird begleitet von Frau und Tochter: Miss Mary. Die sei so «energisch wie liebenswürdig», vermeldet der Kommentator, was wohl die diplomatische Umschreibung für «pain in the ass» ist. Die drei spannen aus. Am Genfer See. Ein Schnellboot der Marine wird aufgeboten. Niemand soll die Gäste stören. «Auch nicht von Seeseite», sagt der Kommentator in einer Wochenschau, die ihren ganz eigenen Witz hat.
Die Schweiz ist begeistert – von Genf bis Zürich
Das Beeindruckende, über all die Jahre hinweg, ist: Churchills Sicherheit Zeichen zu setzen. Ein Besuch beim IKRK gerät ebenso zum Triumph wie Churchills Auftritt in Bern. Menschenmassen säumen den Weg. Vor dem Berner Rathaus beschliesst er seine Rede mit den Worten: «Vive la liberté, vive la justice, vive la fraternité.» Da brandet schon Jubel auf. Churchill unterbricht. Die Menge ist hin und weg: Vom Französisch. Vom Charme des Dialekts. Vielleicht auch vom Zitat: In Anlehnung an den Slogan der Französischen Revolution – ein Jahr nach dem Untergang von Hitlers Deutschland. Auf die Idee muss einer kommen. Churchill setzt noch einen drauf: «Vive la Suisse!»
Churchills Appell an Europa
Mittwoch, 18. September 1946. Churchill kommt in Zürich Bahnhof Enge an. Inkognito. Denkste. In Sekunden strömen Tausende zusammen. Churchill wird ins Hotel Dolder gebracht.
Donnerstag, 19. September 1946. Vor dem Dolder: Schulklassen. Ältere Menschen haben Stühle mitgebracht. Die Strassenränder – voll. Ein Malerbetrieb bringt Leitern: Die hinteren Ränge werden besetzt. 9.45 Uhr. Churchill fährt los. Vom Dolder in die Uni.
Dort hält er die Rede, die als «Europarede» in die Geschichtsbücher eingehen wird. Er lässt die europäische Geschichte Revue passieren, beschreibt den Untergang während 12 Jahren Naziherrschaft. Deutschland dürfe nie wieder bewaffnet werden. Bis dahin keine Überraschung in Churchills Rede .
Aber dann. Irgendwann «muss die Vergeltung ein Ende haben. Wir alle müssen den Schrecknissen der Vergangenheit den Rücken kehren. Wir müssen in die Zukunft schauen.» Und Churchill entwirft die Vision eines neuen Europa: «Ich sage Ihnen jetzt etwas, das Sie erstaunen wird! Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein.» Ein Satz, der damals, 1946, mehr als erstaunt. Ausgerechnet aus Churchills Mund.
Heute wissen wir, dass die Überwindung der deutsch-französischen Feindschaft ein Meilenstein in der Entwicklung eines friedlichen Europas war. Churchills Rede schliesst in dieses neue Europa die Vereinigten Staaten als Partner ein, Grossbritannien und die Hoffnung auf die friedvolle Kooperation mit Russland. Eine Hoffnung, die heute zur Disposition steht. Die Rede ist an visionärer Kraft schwerlich zu überbieten. Die Geschichte gibt Churchill Recht. Er schliesst mit den Worten: «Let Europe arise.»
Der neue, andere, ungewohnte Churchill
Seine Reden während des Krieges kennt man. Jetzt, 1946 in der Schweiz, ist die Situation eine andere. Zorn, Drohung, Härte sind aus den Reden gewichen. Der beschwörende Gestus seiner Kriegsreden ist verschwunden. Churchill hat zwar nichts an politischer Klarheit und Entschlossenheit eingebüsst. Aber die Ironie ist zurückgekehrt, der Humor, die Verspieltheit, der Charme. Am Besten kann man das in Zürich sehen.
Auf dem Münsterhof spricht er. Der Platz ist voll. Menschen auf dem Dachfirst. Aus den Lukarnen hängen Kinder: «May God ... lead the Suisse people through all the Dangers of the Future.» Der letzte Satz auf dem Münsterhof. Wer sie in diese Zukunft führen soll, lässt er offen. Dann setzt Churchill seinen Hut auf einen Stock und hebt ihn empor. Alle lachen. Auch die Offiziellen. Der ernste Moment löst sich auf in Ironie und Understatement. Die Geste wird verstanden: Die Schweizer haben sich noch nie vor jemandem verbeugt. Gessler war der Letzte, der's versucht hat. Dem ist's nicht gut ergangen.
Epilog
1956 erhält Churchill den Karlspreis in Aachen. Er begrüsst auf Deutsch. Die Sprache der Richter und Henker. Und löst ein, was er in Zürich sagte. Frieden geht nur, wenn die Vergeltung ein Ende findet. Frieden geht nur, wenn da Vertrauen ist, wo Hass war. Das galt damals so sehr wie heute: in Iran, in Afghanistan, in der Ukraine, in Palästina. Von heute aus gesehen ist Churchills Europarede fast 70 Jahre alt. Als Vision und Auftrag ist sie Gegenwart.