«Das ist eine Beleidigung. Ich schmeiss Dich gleich raus!» Dieter Bachmann greift durch, wenn ein Kind in seinem Klassenzimmer Grenzen überschreitet.
Strenge Regeln müssen sein, zur Absicherung: Damit Bachmann im Unterricht auf Augenhöhe auch Intimes besprechen kann, ohne dass jemand ausgelacht oder gemobbt wird.
Bachmanns Lebensschule
Dieter Bachmann stellt oft persönliche Fragen, unaufdringlich, lebhaft interessiert: «Warst Du schon mal verliebt?», «Willst Du später mal heiraten?»
Die Kinder antworten gern. Sie fühlen sich ernst genommen. An die Filmkamera im Zimmer haben sie sich längst gewöhnt.
«Was würdest Du denn machen, wenn Dein zukünftiger Mann nicht im Haushalt mithilft?» Die forsche Antwort des Mädchens: «Ich würde ihn schlagen.» Die Klasse lacht. Bachmann reagiert locker: «Ach so. Hatte ich vergessen.»
Eine Klasse aus neun Ländern
Diese Offenheit im Plenum erstaunt, denn die Mädchen und Jungs im Raum verteilen sich von ihrer Herkunft her auf ganze neun Länder. Die Kulturen, Religionen und Ansichten gehen auseinander. Die Deutschkenntnisse sind durchzogen. Da braucht es Mut, sich preiszugeben.
Die Kids stehen zudem unter starkem Leistungsdruck und stecken mitten in ihrer Pubertät. Manchmal blicken sie verschämt zu Boden, kichern nervös. Trotzdem fordert Bachmann sie humorvoll heraus, befragt sie nach ihren Wünschen, Idealen und Zukunftsvisionen.
Bachmann nimmt auch Meinungsverschiedenheiten in Kauf: Er spricht etwa Homosexualität an – wohl ahnend, dass einige der Kinder mit diskriminierenden Aussagen reagieren werden. Das hat er eingeplant; er hört zu und hakt nach.
Ein gewonnenes Spiel auf Zeit
«Herr Bachmann und seine Klasse» verlangt Geduld vom Publikum: Der Film dauert über dreieinhalb Stunden. Aber diese Dauer bewährt sich: Es entsteht eine Nähe, die in 90 Minuten unmöglich herzustellen wäre. Man sieht die Kinder wachsen. Und sie wachsen einem ans Herz.
Die Kamera verlässt das Zimmer bisweilen und zeigt den Ort: Die Gesamtschule steht in einer Industrie-Kleinstadt in Hessen, die Eltern arbeiten in der Eisengiesserei oder beim Süsswarenkonzern. Früher stellten die Nazis hier Sprengstoff her, es gab Zwangsarbeit. Spuren zeugen davon.
Eigenwillig mit Tiefenschärfe
Diese geografische und historische Einordnung vermittelt Tiefenschärfe. Der Film legt Entwürfe vor, wie ein multikulturelles Deutschland aussehen könnte.
Doch man muss das Gezeigte nicht zwingend nach seiner Allgemeingültigkeit abklopfen. Es funktioniert auch auf einer viel einfacheren Ebene.
Der deutlichste Beweis dafür ist, wie schnell die dreieinhalb Stunden im Kino vergehen. Wie einfach man sich von diesem Film tragen lassen kann. Dieter Bachmanns Pädagogik ist eigenwillig, aber ein bestimmtes Gebot hat der Mann offensichtlich verinnerlicht.
Es stammt vom österreichische Filmregisseur Billy Wilder und lautet: «Du sollst nicht langweilen.»
Kinostart: 30.9.2021