Der Glaubenberg ist kein Berg, sondern ein Pass. Aber wenn der Glauben Berge versetzen könnte, dann wäre es Lena wohl gelungen.
Lena liebt ihren wenig älteren Bruder Noah. Schon immer. Schon damals, als die Kinder auf dem Glaubenberg-Pass spielten. Und jetzt, als Siebzehnjährige, liebt sie ihn rasend, unaufhaltsam, unnachgiebig.
Perfekter Flow
Die ersten vierzig Minuten von Thomas Imbachs jüngstem Film erreichen einen perfekten Flow, einen hypnotischen Fluss, ein spielerisches Ineinander aller Ebenen.
Imbach schneidet mühelos die spielenden Geschwister von früher auf Szenen von Noahs Maturfeier, Lenas erotische Noah-Tagträume auf Alltagsszenen, Musik auf Stille, Geräusche und Klanglandschaften auf aufsteigenden Nebel.
Man überlässt sich diesem Fliessen, hin und wieder gebremst von kleinen Irritationen. So wie auch Lenas Träumereien hin und wieder gebremst wird: Von der stechenden Eifersucht auf die realen Frauen in Noahs Umgebung, oder von einer instinktiven Zurückweisung durch den Bruder.
Biografie und Mythologie
«Glaubenberg» sei biografisch begründet, erklärt Thomas Imbach, und inspiriert von einer Legende, steht im Vorspann. Die Legende stammt aus Ovids «Metamorphosen», es ist die Geschichte von Byblis und Kaunos. Die von ihrem Bruder zurückgewiesene Byblis irrt lange umher und wird schliesslich zum Ursprung einer Quelle.
Faszinierend an Glaubenberg ist der fliessende Perspektivenwechsel auf allen filmischen Ebenen. Die tragische Hauptfigur ist eindeutig Lena, überzeugend und einnehmend gespielt von Zsofia Körös. Aber Noah (Francis Meier) ist für das Publikum der andere Ankerpunkt.
Der Freund meines Bruders
Dazwischen liegen die Eltern, die mehr ahnen als wissen, eine junge Lehrerin, welche sich Lena als Eifersuchtprojektion und als Vertraute zugleich erträumt. Und Enis (Nikola Šošic), Noahs bester Freund.
Ihn holt sich Lena scham- und skrupellos zur Ersatzerfüllung ihrer Sehnsucht. Sie verführt ihn unter der Bedingung, dass er dabei Noahs T-Shirt trägt.
Imbach spielt viel lockerer und souveräner als in seinen früheren Filmen – auch mit den ironischen und komischen Momenten, die sich aus den Konstellationen ergeben.
Der Fluss wird gebremst
Nach den ersten 40 Minuten des Films, die mit einer an Perfektion grenzenden Flüssigkeit ablaufen, folgt im Mittelteil ein Tempowechsel. Lenas Träumereien zeigen Auswirkungen. Noah beginnt zu blocken. Lena reagiert darauf erst recht mit Realitätsverzerrung.
Langsam werden alle in der Familie und ihrer Umgebung einbezogen und reagieren mit unterschiedlichen Ausblendestrategien. Dieser mittlere Teil des Films ist angemessen unruhig, zerhackt, kippend.
Nichts ist mehr sicher
Und dann folgt Lenas Zerfall. Sie reist ihrem Bruder in die Türkei nach – oder sie träumt nur davon. Sicher ist da schon nichts mehr. Sie sieht sich immer häufiger selber zu, probt Auftritte, nimmt Reaktionen vorweg.
Hier arbeitet Imbach mit konventionellerem, härterem Schnitt und erhöht den Kontrast zwischen Lenas Wahrnehmung und einer filmischen Realität.
Kompromisslos schön
«Glaubenberg» ist ein echter Imbach, einzigartig und kunstvoll, kompromisslos schön und tragisch zugleich. Autobiografisch geht er weiter als seine bisherigen, ebenfalls meist biografisch verankerten Kunststücke.
Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass der Film mit einem trockenen Humor gesegnet ist, einem aufblitzenden Bildwitz, der nie die Trauer stört oder der Leidenschaft im Wege steht.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 6.8.2018, 11 Uhr