Zum Inhalt springen

72. Filmfestspiele Berlin Warum diese Berlinale mehr Arbeitstreffen als Festival war

Richtig Festivalstimmung kam nicht auf, und auch den Filmen merkte man die Pandemie an – wenn auch nur indirekt.

Fürs Schweizer Kino gab’s leider keinen Bären. So bleibt der Goldene Bär, der an der allerersten Berlinale 1951 an der Film «Die vier im Jeep» von Leopold Lindtberg ging, immer noch der einzige Goldene Schweizer Bär. Aber «Drii Winter» von Michael Koch wurde immerhin mit einer lobenden Erwähnung beehrt.

«Unrueh» gewinnt in Nebensektion

In der Nebensektion «Encounters», einem Wettbewerb, der erst zum dritten Mal stattfand, gewann Cyril Schäublin («Dene wos guet geit») für seinen Film «Unrueh» den Preis für die beste Regie. Darin geht es um eine Gruppe von Uhrmachern um die vorletzte Jahrhundertwende, die eine anarchistische Gruppe gründen.

Der goldene Bär für den spanischen Film «Alcarrás» und die Regisseurin Carla Simon ist verdient. Das Familiendrama aus Katalonien war einer der stärksten und eindrücklichsten Filme im diesjährigen Wettbewerb.

Preiskampf auf der Pfirsichplantage

Der Film ist ganz nah bei seinen Protagonisten und erzählt dabei sehr realitätsnah von der Arbeitswelt und vom Wahnsinn des Preiskampfs um spanische Früchte und Gemüse. Eine Familie von Pfirsichbauern kämpft um ihre Existenz, weil einerseits die Preise für landwirtschaftliche Produkte in unterirdische Tiefen gedrückt werden, andererseits Grossgrundbesitzer lieber Solarzellen-Felder aufstellen möchten, als Landwirtschaft zu betreiben.

Eine Familie steht draussen und beobachtet etwas
Legende: Die spanische Grossfamilie kämpft mit niedrigen Preisen für ihre Produkte und anderen Schwierigkeiten. mk2 films

Diese existenziellen Sorgen bringen Stress, Unruhe und Streit in die ansonsten fröhliche, sympathische Grossfamilie. Diese Probleme betreffen alle, von den kleinsten Kindern bis zum Grossvater, wenn auch alle unterschiedlich. Der atmosphärisch dichte Film wurde zwischen den Pfirsichbäumen und in den Gemüsefeldern der Region Alcarrás wunderschön verfilmt.

Nur wenig Festivalstimmung

Die diesjährige Berlinale war in vielerlei Hinsicht speziell. Sie war um drei Tage kürzer, mit vielen Einschränkungen und Sicherheitsmassnahmen. Zudem kam wenig Festivalstimmung auf, weil Menschenaufläufe an einem Ort vermieden werden sollten und das Publikum auf Kinos der ganzen Stadt verteilt wurde.

Das war am normalerweise publikumsstärksten Festival der Welt deutlich zu spüren. Erst jetzt, nach Beendigung des Wettbewerbs und nach der Preisverleihung, gibt es noch drei Publikumstage am Potsdamer Platz. Dann aber sind alle Filmteams sowie die wenigen Stars, die überhaupt da waren, und auch alle Journalistinnen und Journalisten schon wieder weg. Die Branche war sowieso nicht hier. Deren Markt fand nur digital statt.

Eher ein Arbeitstreffen

Ein deutscher Kollege formulierte es so: «Die Berlinale ist dieses Jahr eher ein Arbeitstreffen als ein Festival». Aber am Ende sind es die Filme, die zählen. Und die Möglichkeit, diese statt zu Hause am Bildschirm im grossen Saal auf Leinwand zu sehen.

Den Filmen (18 Langfilme waren es im internationalen Wettbewerb, dem Herzstück des Festival) waren die zwei Pandemiejahre anzumerken. Zwar wurden keine expliziten Corona-Geschichten erzählt. Aber viele Filme waren mit wenig Personal gedreht. Es waren fast ausschliesslich Beziehungs- und Familiengeschichten. Dem aktuellen Kino ist ein Rückzug ins Kleine und Innere anzuspüren.

Ruhige Tonalität

Zu sehen war die Pandemie aber doch. Gleich in mehreren Filmen waren Masken in Innenräumen, gesperrte Sitzbänke und Plexiglasscheiben in Restaurants ganz selbstverständlich mitgefilmt.

Die Tonalität war in diesem Berlinale-Programm generell ruhig. Wenn doch mal grössere Geschehnisse, Krisen, Probleme oder historische Ereignisse thematisiert waren, waren sie vor allem Handlungsmotor für innerfamiliäre, persönliche Beziehungsgeschichten. «Was machen grosse Krisen mit der ganz privaten kleinen Lebenswelt?» Diese Frage stand wie ein Motto über den Filmen der Berlinale 2022.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 17.02.2022, 07:06.

Meistgelesene Artikel