Wann kann man davon reden, dass jemand eine Rolle komplett vereinnahmt hat? Wenn man sich keine andere Person darin vorstellen kann. Der Schocker «Misery» mit Kathy Bates als geisteskranke Pflegefachfrau Annie Wilkes ist so ein rarer Fall.
«Ich bin Ihr absolut grösster Fan», teilt sie Bestseller-Autor Paul Sheldon (James Caan) mit, den sie für ein Genie hält. Nur wenige Tage später wird sie ihm mit einem Vorschlaghammer die Füsse zertrümmern. Damit der soeben erst Verunfallte nicht wegläuft. Schliesslich will die einsame Annie den Prominenten weiter pflegen können, nachdem sie ihn in seinem Autowrack irgendwo im Nirgendwo geborgen hat.
Als die Stephen-King-Verfilmung 1990 in die Kinos kam, löste sie die unterschiedlichsten Reaktionen aus: Das Publikum zeigte sich mehrheitlich verstört, die Kritik gespalten, die Academy begeistert. Aus heutiger Sicht ist «Misery» vor allem wegen der starken Performance von Kathy Bates sehenswert, die zurecht mit dem Oscar prämiert wurde.
Unverhoffte, späte Hollywoodkarriere
Kathy Bates war bereits 42 Jahre alt, als ihr der Preisregen für «Misery» zum plötzlichen Durchbruch in der Traumfabrik verhalf. «Ich möchte mich bei der Academy bedanken», begann die Südstaatlerin im Frühling 1991 ihre Siegesrede absichtlich formelhaft. Augenzwinkernd fügte sie an: «Ich habe lange warten müssen, um das sagen zu dürfen.» Tatsächlich war Bates bis zu diesem Zeitpunkt in Hollywood ein fast gänzlich unbeschriebenes Blatt gewesen.
Regisseur Rob Reiner hatte bei der Besetzung von «Misery» zuerst mit Bette Midler geliebäugelt, sich dann aber kurzfristig umentschieden und schlussendlich auf eine Unbekannte gesetzt: Kathy Bates, die als Theaterschauspielerin bereits in den 1980er-Jahren oft gepriesen worden war. Dass man die Tony-Award-Nominierte als Filmschauspielerin erst spät in Erwägung zog, lag an ihrem molligen Erscheinungsbild: Das wollte so gar nicht in die eng geschnürten Schönheitsvorstellungen der Studiobosse passen.
Mit dem Oscar in der Tasche sah die Welt für das Schauspieltalent dann freilich anders aus. Bereits 1991 konnte sie beispielsweise in der Dramödie «Fried Green Tomatoes» brillieren: als herrlich rebellierende Frau in den Wechseljahren. Bevor sie 1995 ein weiteres Mal markante Spuren in einer Stephen-King-Adaption hinterliess: diesmal als unheimlich wehrhafte Titelheldin von «Dolores Claiborne».
Prächtiger Palmarès
Während es im Beruf weiter rund lief, musste Kathy Bates privat immer wieder Rückschläge verkraften: 1997, im Jahr, in dem sie als unsinkbare Passagierin von James Camerons «Titanic» die Massen begeisterte, zerbrach ihre Ehe. 2003 wurde bei ihr Eierstockkrebs festgestellt, 2012 Brustkrebs.
Unterkriegen liess die zähe Kämpferin sich davon nie, zumal es aus schauspielerischer Sicht immer wieder Grund zum Feiern gab. 2006 erhielt die vielfach Ausgezeichnete einen der begehrten Sterne auf dem Hollywood Walk of Fame. 2020 folgte die bis dato letzte Oscarnominierung für ihre Darstellung in Clint Eastwoods Drama «Richard Jewell».
Was viele nicht wissen: Kathy Bates führt ab und zu auch Regie. So inszenierte sie gleich mehrere Episoden beliebter Serien wie «Six Feet Under» oder «Everwood». Fürs breite Kinopublikum wird Kathy Bates aber immer die Frau bleiben, die das Monster mit Mondgesicht in «Misery» verkörperte: Crazy Annie.