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«Anatomie d’une chute» und feministische Pionierarbeit
Aus Künste im Gespräch vom 09.11.2023. Bild: Keystone / TAYLOR JEWELL
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Neu im Kino «Anatomie d’une chute»: Schrifststellerin unter Mordverdacht

Das Justizdrama von Justine Triet über einen tödlichen Fenstersturz lässt einen bis zum Schluss in der Luft hängen – aber nicht kalt. Bloss eines steht fest: Es gibt nur Verlierer.

Eine resolute deutsche Schriftstellerin, ein gefrusteter Ehemann und ein rätselhafter Todesfall: Das sind die Zutaten des Justiz- und Ehedramas «Anatomie d’une chute» von Justine Triet.

Sandra (gespielt von Sandra Hüller) wohnt mit ihrem französischen Mann und dem gemeinsamen Sohn Daniel, der seit einem Unfall blind ist, bei Grenoble. Als eine Studentin die erfolgreiche Autorin zu interviewen versucht, stört ihr Mann das Gespräch. Der bisher erfolglose Autor spielt dröhnende Musik auf dem Dachboden, bis Sandra die Studentin bedauernd wegschickt.

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Trailer zu «Anatomie d'une chute»
Aus Kultur Extras vom 02.08.2023.
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Wenig später liegt der Mann tot draussen im Schnee, mit einer klaffenden Wunde an der Seite des Kopfes. Gefunden wird er vom Sohn, der mit seinem Blindenhund einen Spaziergang gemacht hat.

Die Schuldfrage

Hier beginnt die eigentliche Analyse, die der Titel «Anatomie d’une chute» – zu Deutsch: «Anatomie eines Falls» – andeutet. Sandra heuert den von Swann Arlaud gespielten Anwalt zu ihrer Verteidigung an. Bald wird klar, dass mangels anderer Spuren nur zwei Hypothesen möglich sind: Entweder hat er sich suizidiert, oder er wurde von seiner Frau vom Balkon gestossen.

Mann liegt reglos im Schnee, Blut um den Kopf. Daneben stehen zwei Personen, Foto von oben auf Köpfe runter.
Legende: Suizid oder Mord? Beim Gerichtsfall wird die Ehe von Sandra und Samuel (gespielt von Samuel Theis) seziert. Les Films Pelléas-Les Films de Pierre

Regisseurin Justine Triet spielt die Möglichkeiten der Untersuchung und des Prozesses durch, und Sandra Hüller bleibt unheimlich souverän in ihrer Rolle. Die Frage, ob sie ihren Mann umgebracht hat oder nicht, stellt sich nicht nur für die Staatsanwaltschaft und das Kinopublikum, sondern auch für den blinden Sohn.

Genau das macht den in Cannes prämierten Film zu deutlich mehr als einem üblichen Whodunit-Drama: Verhandelt wird letztlich nicht die Mechanik eines Falles, sondern die Dynamik einer Paarbeziehung – und der Blick darauf von innen und von aussen.

Eindeutig mehrdeutig

Während der Staatsanwalt seinen Job macht und vor allem seine männlichen Zeugen klar gegen die Angeklagte eingenommen sind, ist Sandras Verteidiger auch davon getrieben, dass er einst hoffnungslos in seine Mandantin verliebt war.

Ein Mann mit grau meliertem, lockigem Haar steht vor einer Frau mit kurzem braunen Haar. Beide haben Winterjacken an.
Legende: Unterstützt von ihrem Freund und Anwalt (Swann Arlaud), muss sich Sandra nicht nur Fragen zum Tod ihres Mannes, sondern auch zu ihrer Ehe und Rolle als Frau stellen. Les Films Pelléas-Les Films de Pierre

Das zentrale Bravourstück ist ein ausgedehnter Streit zwischen den Eheleuten, der nur als Tonaufnahme existiert – bis zu dem Punkt, da es handgreiflich wird. Ab da gilt es, die Geräusche zu interpretieren und den Aussagen der Angeklagten zu vertrauen. Oder eben nicht.

Die Dynamik dieses Streits ist grossartig präzise, weil die Gedankenfolgen, Vorwürfe und Erklärungen beider Eheleute nachvollziehbar sind. Es läuft daraus hinaus, dass es keine Eindeutigkeit geben kann. Der Sohn, der als Zeuge vor Gericht ebenfalls vernommen wird, hängt damit rational und emotional völlig in der Luft. Und doch findet er für sich und den Film und die Geschichte eine überraschende Lösung.

Mit Scharfsinn und Gefühl

Sandra ist eine präzise Autorin, die, wie sie selbst sagt, unter allen Umständen arbeiten kann. Auch im grössten Lärm oder Trubel. Ihr Mann dagegen bringt seinen Roman nicht auf die Reihe, weil er den Ansprüchen an sich selbst schlicht nicht gerecht werden kann.

Nahe Aufnahme einer Frau, schaut streng nach vorne, die kurzen Haare zurückgekämmt, mit Blazer und Hemd, auf Holzbank.
Legende: Sandra Hüller und die Regisseurin Justine Triet sind ein eingespieltes Team: Hüller spielte schon in Triets «Sibyl» (2019). ©Les Films Pelléas-Les Films de Pierre

Der Sohn schliesslich, der so gut wie blind ist, hört umso besser. Auch hat er einen präzisen Geruchssinn und ein für sein Alter erstaunlich abgeklärtes Denkvermögen.

Das alles macht diese 150 Minuten Film zu einer scharfsichtigen, schön gebauten Maschine. Sandra Hüller ist perfekt in der Rolle, die in ihrer Klarheit und Direktheit Gedankenwiderspruch fordert, während das emotionale Drama des Sohns dafür sorgt, dass sich das Herz nicht ausklinken kann.

Kinostart am 9.11.2023.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 8.11.2023, 8:06 Uhr

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