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Schwarzer Jesus in Venedig
Aus Kultur Webvideos vom 06.09.2020.
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77. Filmfestspiele Venedig Provokantes Projekt: Milo Raus Jesus ist schwarz – und Aktivist

Essen Sie Tomaten aus Italien? Nach diesem Film werden Sie sich den Griff ins Gemüseregal zweimal überlegen. «Das Neue Evangelium» ist knallharte Kapitalismuskritik.

Jesus wird von Yvan Sagnet, einem politischen Aktivisten aus Kamerun, gespielt. Er startet eine «Revolte der Würde», kämpft für ein Bleiberecht und bessere Arbeitsbedingungen der Plantagenarbeiter, meist Flüchtlinge, die sich illegal im Land aufhalten.

«Das Neue Evangelium» von Milo Rau ist kein 08/15-Bibelfilm. Aber typisch für den Schweizer Regisseur: Realität und Fiktion treffen aufeinander, aktuelle Missstände werden aufgezeigt und attackiert. Bei den Filmfestspielen in Venedig stellte er sein jüngstes Projekt vor.

Milo Rau

Milo Rau

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Milo Rau ist Film- und Theaterregisseur und Aktivist. Er wurde 1977 in Bern geboren. In seinen Projekten spielt soziale Ungerechtigkeit ein zentrales Thema. Bekannt wurde der Schweizer mit den nachgestellten Gerichtsverfahren «Moskauer Prozesse» (2014) und «Das Kongo Tribunal» (2017). In der Schweiz sorgte er 2013 mit den «Zürcher Prozesse» für Aufsehen. Er inszenierte eine Gerichtsverhandlung gegen «Die Weltwoche». Auf die Zeitschrift zu zielen, sei dabei nur ein Vorwand, um die zentralen Konflikte der Schweiz aufzeigen, erklärte er damals.

«Zürcher Prozesse»

SRF: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Bibelfilm mit Flüchtlingen zu erzählen?

Milo Rau: Matera war 2019 Kulturhauptstadt Europas, und man hat mich gefragt, ob ich dazu was machen will. Ich habe sofort gesagt, dass ich einen Jesus-Film machen will.

Ich bin ein grosser Fan von Pier Paolo Pasolinis Film «Das 1. Evangelium – Matthäus» und der Schauspielerin Maia Morgenstern, die in Mel Gibsons Drama «The Passion of the Christ» die heilige Maria spielt (Anm. der Red.: Beide Regisseure drehten ihre Werke in Matera).

«Das neue Evangelium» ist ein Hybridfilm, teils Politdokumentation, teils Jesusfilm.

Ich bin nach Matera gefahren, wo ich auf die katastrophale Situation in den Flüchtlingslagern gestossen bin. Da war mir klar: Wenn ich eine Geschichte über die Bibel drehen möchte, über Jesus, den Anführer der Ausgebeuteten, dann muss ich mit den Flüchtlingen zusammenarbeiten. So ist dieser Mix aus Aktivisten, Flüchtlingen und Schauspielern entstanden.

Parallel zur Jesusgeschichte erzählen wir von der Politkampagne, die wir gestartet haben, in der es um die Rechte der Immigranten geht. «Das neue Evangelium» ist ein Hybridfilm, teils Politdokumentation, teils Jesusfilm.

Mann mit Kreuz
Legende: Der Aktivist Yvan Sagnet spielt Jesus. Er setzt sich seit vielen Jahren für die Rechte der Flüchtlinge in Süditalien ein. Vinca Film

In der Bibel soll Jesus die Menschheit retten. Wem soll er in Ihrem Film helfen?

Jesus muss die ganze Gesellschaft retten. Menschen aus afrikanischen und osteuropäischen Staaten werden unterdrückt, genauso wie Italiener. Wenn du in Süditalien ein Kleinbauer bist, dann kannst du nicht davon leben. Leute werden ausgebeutet, damit man mit den grossen Firmen konkurrieren kann. Das geht uns alle etwas an. Es ist ein globales System der Unterdrückung.

Warum haben Sie sich entschieden, das Vorsprechen der Laiendarsteller in den Film zu integrieren?

Ich wollte einerseits die Breite der Gesellschaft zeigen. Anderseits ist, meiner Meinung nach, etwa die Hälfte des Neuen Testaments nichts anderes als ein riesiges Casting, das Jesus durchführt. Er sagt: «Folgt mir» und dann castet er alle möglichen Leute: Fischermänner, einen Zöllner, eine Prostituierte und so weiter.

Ein Mann spielt beim Vorsprechen die Szene nach, in der Jesus ausgepeitscht wird. Er sagt: «Tötet den dreckigen Schwarzen.» Welche Bedeutung hat diese Szene?

Man sieht diesen Mann danach im Film als sehr sanftmütigen Menschen. Man fragt sich: Woher kennt er diese Schimpfwörter, es ist ja bloss ein Casting, bei dem es keinen vorgegebenen Text gab. Woher kann er das? Wie dringt der Rassismus in jeden von uns ein? Wie kann es sein, dass wir alle Rassisten sind?

Ich glaube, wir sind alle Rassisten, aber wir sind auch alle gute Menschen.

Denn die Idee, dass es Rassisten auf der einen Seite gibt und gute Menschen auf der anderen, die stimmt nicht ganz. Ich glaube, wir sind alle Rassisten, aber wir sind auch alle gute Menschen. Entsprechend der Umstände tritt das eine oder andere hervor. Deshalb müssen die Umstände besser werden.

Viele Menschen auf Strasse
Legende: Die «Revolte der Würde» kämpft gegen die Ausbeutung der Erntehelfer in Süditalien. Vina Film

Wie sieht die Situation der Erntehelfer in Matera nach Ihrem Film aus?

Wir konnten konkrete Projekte unterstützen. Wir haben zum Beispiel die «Casa della dignità» gegründet. Das sind von der katholischen Kirche mitfinanzierte Häuser für Flüchtlinge. Das ist wichtig: Denn wenn sie keinen Wohnsitz haben, bekommen sie keine Arbeitserlaubnis und werden nicht legalisiert. Insgesamt haben wir in dieser «Revolte der Würde» rund 50 Initiativen zusammengeschlossen, die bis heute zusammenarbeiten.

Das Gespräch führte Cynthia Ringgenberg.

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