Am 18. Mai 2014 stand Sylvester Stallone auf dem roten Teppich in Cannes, zusammen mit Harrison Ford, Mel Gibson, Antonio Banderas, Wesley Snipes und etlichen anderen Stars. Jeder von ihnen hielt ein Papier in die Kameras der Weltpresse. «Bring Back Our Girls» stand darauf.
Die Forderung bezog sich auf die Massenentführung nigerianischer Schülerinnen durch die islamistische Terrorgruppe Boko Haram, welche zwei Tage zuvor die Welt erschüttert hatte.
Die Haudegen von «The Expendables 3» waren nicht die einzigen Stars, welche in diesen Tagen das Thema aufgriffen . Es war nicht das erste und schon gar nicht das letzte Mal, dass die global vernetzte Kameradichte am roten Teppich des wichtigsten Filmfestivals der Welt für eine Botschaft jenseits des Kinoglamours genutzt wurde.
«Cannes» kann solche Bilder innert Stunden in die ganze Welt hinaustragen. Die Szene steht sinnbildlich für das, was an den Filmfestspielen in Cannes ständig passiert: die Fusion der Kinoträume mit der nicht ganz so glamourösen Realität.
Der Trubel zahlt sich aus
Das grösste, wichtigste, glanzvollste Filmfestival der Welt lockt jeden Mai bis zu 40’000 Menschen (darunter wohlgemerkt noch kein «Normalo-Publikum») an die französische Riviera, die angeben, beruflich im Filmgeschäft tätig zu sein. Stars, Produzenten, Regisseurinnen und Filmfans verbringen zwölf Tage an der Côte d’Azur, hoffen auf gute Filme und schönes Wetter.
Dieses Jahr dauert das Vergnügen vom 14. bis am 25. Mai. Die Schweiz ist als Ehrengast Teil der 77. Filmfestspiele von Cannes .
Cannes ist ein Festival für zahlende Profis. Filmkäufer und -verkäufer bezahlen happige Preise für die Teilnahme am sogenannten «Marché du film».
Die kleine Stadt Cannes, mit ihren rund 74’300 Einwohnerinnen und Einwohnern, wird für zwölf Tage belagert. Zum Festivalbeginn verdoppeln sich die Hotelpreise und in den Restaurants wird ebenfalls ein ordentlicher Aufpreis verlangt.
Nicht wenige «Cannois» vermieten ihre Wohnung während der Festivaltage zu irren Preisen an die wie Heuschrecken einfallenden Filmleute. Sie holen dabei die halbe Jahresmiete für sich heraus und ziehen derweil zu Verwandten ins Umland.
Ursprünglich dienten Filmfestivals tatsächlich dazu, den Tourismus anzukurbeln. Erfunden wurde das Filmfestival von Cannes von örtlichen Hoteliers, denen die Einnahmen durch Badegäste nicht mehr reichten.
Wie Cannes gross wurde
Dass ausgerechnet Cannes zur globalen Filmmetropole wurde, haben die Franzosen Mussolini und seinen Faschisten zu verdanken. Denn eigentlich ist die «Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica» in Venedig die Urgrossmutter der Filmfestivals.
Da aber die Faschisten die Biennale ebenso kaperten wie Hitler die Olympiade, kamen der restlichen Welt die Konkurrenzpläne aus Südfrankreich durchaus entgegen. Auch wenn der Zweite Weltkrieg sie dann erst einmal ausbremste.
Zum ersten Mal fand das Festival de Cannes am 20. September 1946 statt, bevor es ein paar Jahre später in den Mai verschoben wurde.
Ursprünglich glichen die Festivals ohnehin eher den Weltausstellungen, oder der Olympiade. Jedes Land schickte Delegationen und reichte Filme ein. Das heutige Wettbewerbssystem, bei dem das Festivalteam die Auswahl trifft und die Jury daraus die «Besten» kürt, entstand schrittweise und machte aus der Kunstpräsentation so etwas wie ein Autorennen.
Auch heute noch gilt: Eine global beachtete Veranstaltung wie «Le Festival de Cannes» ist de facto eine diplomatische Staatsaffäre. Nur wenige Staaten der Welt können vergleichbare Events anbieten, und das ist dem französischen Staatsapparat bewusst.
Sicherheit in Cannes
Cannes verwandelt sich in den Festivaltagen zu einer Sicherheitshochburg: Security, Polizei und Überwachungskameras halten jeden Schritt im Städtchen fest.
Die Polizeizentrale ist rund um die Uhr besetzt. Und beschäftigt. Taschendiebe, Räuber, Einbrecher verbünden sich mit unterbezahltem Hotelpersonal; Safes werden ausgeräumt, Scooter gestohlen – und über allem hängt, verstärkt seit 2015, auch die Angst vor Terroranschlägen.
Eintritt ins Palais des Festivals gibt es nur mit Badge. Taschen werden inspiziert, alle werden gescannt wie am Flughafen, immer wieder. Ausser die Stars auf dem roten Teppich natürlich.
High Heels und andere Regeln
Für die Stars gibt es auch Regeln, die meisten davon sind zur Hälfte wahr, andere eher Legende. So bestreitet die Festivalleitung Jahr für Jahr den immer wieder behaupteten Zwang zu High Heels für die Damen auf dem roten Teppich.
Zum Beweis für die Fussfreiheit kann Festivaldirektor Thierry Frémaux auf die barfüssigen Auftritte von Jennifer Lawrence, Kristen Stewart, Julia Roberts oder Cate Blanchett verweisen.
Wobei dennoch fraglich bleibt, ob Lieschen Müller in Birkenstocksandalen an den Teppich-Gorillas vorbeikäme. Denn für die grossen Galas gilt durchaus ein Dresscode. Wir Journalisten brauchen, so wir überhaupt ein Ticket dafür ergattern können, mindestens einen schwarzen Anzug und Krawatte.
Die in den Zehnerjahren aufkommende Selfie-Konkurrenz auf dem roten Teppich war nicht nur den Profifotografen ein Dorn im Auge, sondern auch der Festivalleitung. Es schickt sich einfach nicht, wenn die Stars alle mit ihren Mobiltelefonen vor dem Gesicht die Treppe hochstolpern. Darum gilt offiziell seit Ausgabe 2018 «no selfie» während der «montée des marches». Wobei nicht einmal Festivalchef Thierry Frémaux einem Steven Spielberg oder einer Léa Seydoux den Moment verwehren würde.
Klassensystem beim Filmfestival
Das Festival von Cannes unterscheidet sich in seinem Klassensystem nur geringfügig vom komplexen System am Hof von Louis XIV. Denn Cannes ist alles andere als ein Publikumsfestival. Ins Kino kommt nur, wer akkreditiert ist oder eine Einladung ergattert.
So sind Touristen und Fans oft nur Zaungäste am roten Teppich. Oder sie stehen mit Kartons auf der Croisette, die verkünden, welchen Film sie unbedingt sehen möchten, immer in der Hoffnung, von jemandem ein überzähliges Ticket zu ergattern.
Die Profis unter ihnen wissen allerdings, dass es meist sinnlos ist, die an ihren farbigen Badges erkennbaren Journalisten um Tickets anzugehen. Denn die können ihren mittlerweile online auf den Badge gebuchten Platz nicht weitergeben.
Vom gelben bis zum weissen Badge
Trotz des in Covid-Zeiten eingeführten Online-Ticketing-Systems hält sich in Cannes die feine Klassifizierung der Journaille: Es gibt Badges in weiss, rosa, blau, grau, orange und gelb. Der weisse Badge mit Priority-Access ist für den wahren Hochadel reserviert, für die französischen Edelfedern, die Kritiker-Stars der Weltpresse, die nicht nur zuerst in den Saal dürfen, sondern gar durch einen eigenen Eingang.
Die zweitbeste Position geniessen die Tagesmedien mit rosa Badges. Rosa Badges mit einem gelben Punkt («Rose pastille») bekommen Journalistinnen von wichtigen Tagesmedien und schliesslich, als Ehrenmal, auch beharrliche, nicht so wichtige Tages-Journalisten wie ich, wenn sie mal 20 Jahre Treue aufzuweisen haben.
Noch nach dem blauen Badge für Wochenpublikationen, ganz am Ende des Badge-Spektrums, hängt der gelbe Badge für Journalistinnen von Monatspublikationen. Mit diesen ist es in der Regel fast unmöglich, in die offiziellen Screenings zu kommen. Die Fotografen bekommen graue und orange Badges, mit denen sie auch fast nichts dürfen, ausser filmen oder fotografieren an den designierten Orten.
Eine Messe des Kinos
Mit diesem Kastensystem, in dem die gelben Badges sozusagen die Unberührbaren markieren, war und ist Cannes nahe an den höfischen (oder den päpstlichen) Zeremonien angesiedelt: mit dem roten Teppich für die gottgleichen Stars und die Kunstschaffenden (und die von den Sponsoren eingeschleusten Influencer, Models und Fussballer-Gattinnen) und den viehgatterumrandeten Anstehbereichen für den mittleren und niederen Klerus.
Eigentlich ist das alles ganz passend. Denn das Filmfestival von Cannes ist tatsächlich eine Messe des Kinos, ein Hochamt für den Film. Und das umfasst, wie die meisten organisierten Religionen der Welt, auch die dunklen Seiten der menschlichen Natur. In den künstlerisch hochstehenden Filmen sowieso. Ohne das Böse geht auch in der Kunst nicht viel.
Jenseits der weissen Pavillons
Dem ist auch im «Schlock» so, in den als Dutzendware produzierten Horror- und Ripp-Off-Genrefilmen, die in den Katakomben des Filmmarktes feilgeboten werden. Ganz wörtlich: Der grösste Teil des Filmmarktes, der zum Festival gehört, findet in den hellen weissen Zeltpavillions hinter dem Palais des Festivals statt. Es gibt aber auch viele wie Messestände eingerichtete Sitzecken im Keller des Palais.
Jenseits der weissen Pavillons stösst der neugierige Explorer nach wie vor auf Killer-Alligatoren, atomverseuchte Zombie-Nonnen oder ausserirdische Bikini-Biker.
Wer erschlagen ist vom künstlerisch hochtrabenden Angebot des Weltkinos im Rampenlicht der Oberfläche, kann hier für ein paar Stunden abtauchen ins abstruse Vergnügen der Gummimonster in Kartonkulissen.
Nach so einem Ausflug bin ich bereit für die nächste Portion Weltkunst, präsentiert in der schönsten Illusionskunst-Bubble der Welt, der «haute cuisine du cinéma». Das ist Cannes par excellence: Es kommt eben darauf an, was man sehen will.