Extreme Widerstandsfähigkeit: Wenn Venedig etwas schon mehrfach bewiesen hat, dann das. Oft totgesagt, rappelte sich das alt-ehrwürdige Filmfest immer wieder auf.
In den vergangenen Jahren erlebte es dank verbesserter Infrastruktur und liberaler Filmselektion gar seinen x-ten Frühling: als ideale Rampe für Oscar-Kandidaten aus Übersee.
Kooperation statt Konkurrenz
Im Jahr der Pandemie ist freilich alles etwas anders. Doch seinen eben erst zurückeroberten, hohen Stellenwert im internationalen Festivalzirkus wird Venedig 2020 nicht einbüssen.
Im Gegenteil: Weil Branchenprimus Cannes die 73. Austragung seines Filmfests absagen musste, nimmt Venedig in diesem Jahr gar die globale Führungsrolle ein.
Ohne gross dafür kämpfen zu müssen, wie Festivalleiter Alberto Barbera im Rahmen eines Panels verkündete: «Dieses Jahr waren die wichtigsten Worte zum ersten Mal Zusammenarbeit und Solidarität, nicht Konkurrenz.»
Sieben auf einen Streich
Um die neue Verbundenheit zu unterstreichen, hat Venedig zur Eröffnung gleich vier Direktoren und drei Direktorinnen anderer wichtiger Festivals eingeladen.
Namentlich sind das: Thierry Frémaux (Cannes), Lili Hinstin (Locarno), deren Vorgänger Carlo Chatrian (Berlin), Vanja Kaludjeric (Rotterdam), Karel Och (Karlsbad), Tricia Tuttle (London) und José Luis Rebordinos (San Sebastian).
Sie alle werden – unter Einhaltung strikter Sicherheitsvorkehrungen – gemeinsam über den roten Teppich schreiten. Allzu viel Glamour werden sie im Meer der Masken nicht verströmen können. Zumal ihnen die Unterstützung aus Hollywood fehlt: Die Traumfabrik zeigt dem Lido in diesem Jahr Corona-bedingt die kalte Schulter.
Ein Programm fast ohne Prominenz
Prominente Namen fehlen im Programm der diesjährigen Ausgabe weitgehend. Die britische Schauspielerin Tilda Swinton, die einen Ehrenpreis erhält, ist eine von ganz wenigen Ausnahmen. Ähnliches gilt für den Wettbewerb, in dem kein klarer Favorit auszumachen ist.
Einerseits hätten wir da Kino-Urgesteine wie den Russen Andrej Konchalovsky oder den italienischen Löwen-Gewinner von 2013, Gianfranco Rosi. Andererseits Kritiker-Lieblinge wie den Mexikaner Michel Franco, den Ungarn Kornél Mundruczó oder den Israeli Amos Gitai. Letztlich aber auch Newcomerinnen wie die Deutsche Julia von Heinz, die zum ersten Mal von einem bedeutenden Festival eingeladen wurde.
Die 44-Jährige ist eine von immerhin acht Frauen, die neben zehn Männern um den Goldenen Löwen wetteifern dürfen. Mit besonderer Vorfreude blicken wir Chloé Zhaos «Nomadland» entgegen. In dieser dramatischen Momentaufnahme der USA zieht Independent-Ikone Frances McDormand mit ihrem Kleinbus durchs krisengeplagte Land.
Italienischer Eröffnungsfilm
Das Festival eröffnen wird allerdings für einmal ein einheimischer Film. Diese Ehre wurde zuletzt vor elf Jahren einer italienischen Produktion zuteil. Das beschwingte Beziehungsanalyse «Lacci» von Daniele Lucchetti ist gemäss Festivalleiter Alberto Barbera «die wunderbare Anatomie einer neapolitanischen Ehe in der Krise».
Für alle, die kein Italienisch verstehen: Der Titel «Lacci» lässt sich auf Deutsch mit «Schnürsenkel» übersetzen. Mit Blick auf die Mund-Nasen-Masken, die derzeit das Stadtbild von Venedig prägen, lässt sich sagen: Es werden garantiert nicht die einzigen Bändel sein, die in den nächsten Tagen den Lido prägen.