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79. Filmfestival Venedig «White Noise»: Ein Festival-Auftakt mit Schrecken

Adam Driver und Greta Gerwig kämpfen in Noah Baumbachs Buchverfilmung als Paar mit giftigen Gasen und garstigen Kindern.

«Wir sind fragile Kreaturen, umgeben von einer Welt feindseliger Fakten», schrieb Don DeLillo Mitte der 1980er-Jahre. Doch so aktuell wie heute hat die Schlüsselpassage aus seinem Erfolgsroman «White Noise» noch nie gewirkt.

Vor allem, wenn man liest, welche Bombe der New Yorker direkt nach diesem Satz mitten im Akademiker-Milieu platzen liess:  «Fakten gefährden unser Glück, unsere Sicherheit.» Wer sich gerne von solchen Aussagen triggern lässt, kriegt von Noah Baumbachs Buchverfilmung viel Stoff geboten.

Die 80er als Zerrspiegel der Gegenwart

«White Noise» ist harter Tobak, hält der schrecklich schreckhaften US-Gesellschaft genüsslich den Spiegel vor. Der Film spielt in den 1980ern, sein Thema – eine um sich greifende Zukunftsangst – ist aber topaktuell.

Ein Mann steht im Zentrum des Bilds, umgeben von seiner Filmfamilie von «White Noise».
Legende: Mit Kind und Kegel: Adam Driver als ziemlich zerzauster Geschichtsprofessor. Netflix

Im Zentrum der satirischen Horror-Komödie stehen ein liebenswert realitätsfremder Historiker (Adam Driver) und seine wirblige, medikamentenabhängige Frau (Greta Gerwig). Nach einem Chemieunfall ziehen in ihrer Heimat dunkle Wolken auf, bis die Paranoia vor einer drohenden Pandemie überhandnimmt. Als ob die pubertierenden Kinder nicht schon für genügend Drama sorgen würden!

Anders als beispielsweise in der Serie «Stranger Things» werden die 1980er-Jahre hier nicht romantisiert. Stattdessen nutzt der Film die zeitliche Distanz, um die Wahrnehmung für unheimlich Vertrautes aus der Reagan-Ära zu schärfen: Vor allem das diffuse Gefühl, dass es mit der vermeintlichen Familienidylle in der Konsumkultur bald vorbei sein könnte.

Horror als Zeichen der Zeit

Ein klassischer Schocker ist «White Noise» gewiss nicht. Und doch spielt das Unheimliche hier die Hauptrolle, wie in auffallend vielen Eröffnungsfilmen in den letzten Jahren.

Adam Driver sitzt als Hauptdarsteller von «White Noise» am Steuer seines Autos, das vor einem Hotel steht.
Legende: Dunkle Atmosphäre und rabenschwarzer Humor zeichnen «White Noise» aus. Netflix

Festivalkenner erinnern sich: 2019 durfte Adam Driver als Leading Man der Zombie-Komödie «The Dead Don’t Die» die Jagd auf die Goldene Palme eröffnen. Und in diesem Jahr wurden die Filmfestspiele von Cannes mit dem gewitzten Meta-Splatter-Spektakel «Coupez!» lanciert.

Warum Horror bei den wichtigsten Festivals so hoch im Kurs steht, weiss Biennale-Stammgast Peter Claus: «Schreckliche Zeiten bringen immer Bilder des Schreckens hervor: Das war so in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der grossen Rezession in den 1930ern und ganz besonders in den 1950ern, als die Angst vor einem Atomkrieg enorm war.»

Renaissance des Schreckens

Nach einer eher ruhigen Phase leben wir laut Peter Claus jetzt wieder in furchteinflössenden Zeiten. Venedigs Festivalleiter Alberto Barbera teilt diese Einschätzung mit Blick auf den sozialkritischen Eröffnungsfilm: «Im Moment fürchten wir uns vor vielen Dingen: Vor der Pandemie, dem Klimawandel und dem Krieg in der Ukraine, der nicht weit hinter unseren Grenzen wütet.»

«Ich will wissen, wie verängstigt ich sein sollte», sagt ein Kind in einer beklemmenden Szene von «White Noise» zu ihren Eltern. Doch der Film macht klar: Wahrheit ist innerhalb der Familie ein besonders knappes Gut. Oder um es mit einem von erfreulich vielen direkten DeLillo-Roman-Zitaten zu sagen: «Die Familie ist die Wiege der Fehlinformation in unserer Welt.»

Regisseur Noah Baumbach lief es kalt den Rücken runter, als er 2019 diesen Satz las. Seinem Filmpublikum dürfte es nun ähnlich ergehen. Schliesslich leben wir in einer Welt, in der so viele Fehlinformationen und Ängste grassieren, wie lange nicht mehr.

Kinostart: Kurz vor der Netflix-Premiere vom 30.12.2022.

SRF 1, Tagesschau, 31.08.2022, 19:30 Uhr

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