Alexander Kluge hat ein immenses Werk geschaffen, in dem Wissen und Poesie in kühner Weise changieren. Kurz vor seinem 90. Geburtstag spricht der deutsche Autor, Filmemacher und Jurist über seine beiden neuen Bücher und erklärt, weshalb wir uns mit Irrtümern beschäftigen sollten.
SRF: Sie sind derzeit Juror für «die grösste Dummheit des Jahres 2021». Ein Wettbewerb des Gleimhauses in Halberstadt, wo Sie aufgewachsen sind. Was interessiert Sie an den Dummheiten der Gegenwart?
Alexander Kluge: Das, was uns dumm erscheint, hat meist einen Grund. Ich bin überzeugt davon, dass es in der Poetik ganz wichtig wäre, den Irrtümern nachzugehen. Das Gegengift gewinnt man aus dem Gift, sagt Paracelsus. Mit all den Wahrheitssätzen, die es in der Philosophie und in der Literatur gibt, haben wir das Jahr 1933 nicht verhindert.
Empathie und Sachlichkeit – das sind die Beisswerkzeuge des Poetischen.
Wir haben viele andere Fehler, die in der Politik gemacht werden, nicht verhindern können, weil wir immer nur nach der Wahrheit grapschen. Und die steht mit uns nicht auf Du. Die Schwächen der Menschen sind der stärkste Lehrmeister.
Es geht also nicht darum, Dummheiten öffentlich abzuqualifizieren, sondern um Erkenntnis?
Sagen wir mal: um Neugier und Empathie, um Einfühlung. Ich muss mich in Irrende einfühlen und die Gründe erforschen, warum sie irren. Poeten sind Sammler, sie haben Empathie und Sachlichkeit – das sind die Beisswerkzeuge des Poetischen.
Ich senke zuerst die Ich-Schranke, und dann fängt es an zu erzählen.
Wenn wir sachlich sind, müssen wir auch den Irrtümern nachgehen und Orientierung geben. Und wenn wir empathisch sind, dann sind wir auf der Höhe dessen, wofür die Dichtung überhaupt da ist. Nicht nur Ratio, sondern auch die übrigen Sinne sprechen ja zu uns.
Sinnliche Erfahrungen spielen in Ihren neuen Büchern eine Rolle, wenn Sie sich an Ihre Kindheit erinnern. Sie sagen, der Ort Ihres Schreibens liege immer noch in Ihrem Elternhaus, das am Ende des Kriegs abgebrannt ist. Was bedeutet das für Ihre Arbeit als Autor?
Das sind die Orte, an denen ich meine ersten Erfahrungen gemacht habe. Mein Pulsschlag ist verbunden mit diesem Haus, das es ja längst nicht mehr gibt. Das ist 1945 zerstört worden, und doch lebe ich innerlich im Rhythmus und in den Tönen dieses Hauses. Ich trage das wie ein Schneckenhaus mit mir herum durch mein Leben.
Sie erzählen, wie Ihr Vater in seiner Arztpraxis auf seinem Rezeptblock Stichworte notierte, um abends seine Gäste mit Geschichten zu unterhalten. Wie kommen denn bei Ihnen die Bausteine für eine Erzählung zusammen?
Was mich an meinem Vater berührt: Mitten in seiner verantwortungsvollen Arbeit, bei der er Patienten heilt, macht er sich Notizen, weil er nicht langweilig sein will. Darin liegt eine Hingabefähigkeit, die ich wichtig finde.
Wenn ich schreibe, dann kommt die Geschichte aus der Spitze des Bleistifts, nicht aus der Absicht, etwas zu beschreiben. In mir sind dann Stimmen, die erzählen. Ich senke zuerst die Ich-Schranke, und dann fängt es an zu erzählen.
In Ihren neuen Büchern stehen persönliche Erinnerungen im lockeren Wechsel neben Essays, historische Rückblicke neben aktuellen Gesprächen mit einer Virologin. Sammeln Sie Ihre Stoffe und Themen im Gedächtnis, oder arbeiten Sie mit einem Zettelkasten?
Weder noch. Ich bin nicht Dompteur, sondern Gärtner. Der fängt auch nicht an, an den Pflanzen zu zupfen und zu ziehen, damit sie grösser werden, sondern er wartet ab und lässt sie wachsen.
Ich bringe Wissenschaft und Poetik enger zusammen mit den Mitteln des Films.
Ich beschreibe eigentlich nur, was ich beobachten kann. Der Baum ist krumm gewachsen und dadurch schön. Die Pflanzen haben Unkraut zwischen sich, und das ist das Reale. Die Wirklichkeit ist der Erzähler, und der montiert. Ich registriere, ich beobachte, ich schreibe auf.
Gleichzeitig lassen Sie in der Schwebe, was erfunden und was dokumentarisch ist. Weshalb möchten Sie, dass ich mir als Leserin nie ganz sicher sein kann?
Weil ich Sie nicht bevormunde. Man muss den Muskel, der erkennt, was authentisch und was eine Lüge ist, so stark machen wie möglich. Deswegen muss man dem Leser das zumuten, was wir alle tun, wenn wir mit der Wirklichkeit zu tun haben: Wir glauben, dass wir sie verstehen, aber kein einzelner Mensch versteht die Gesellschaft.
Ich lebe mit meiner Frau zusammen und ich kann nicht behaupten, dass ich alles von ihr weiss. Da ist immer noch ein Geheimnis. Dieser Respekt fordert auch eine bestimmte erzählerische Distanz.
Ihre neuen Bücher sind multimedial: Texte treffen auf Abbildungen und QR-Codes, die zu Filmen von Ihnen führen. Warum betonen Sie, dass Sie in erster Linie Autor sind, obwohl Sie so intensiv mit Bildern arbeiten?
Bilder sind eigentlich auch Texte. Bei Filmen mache ich Konstellationen von Bildern. Konstellation kommt von Stella, lateinisch für Stern. Und wenn Himmelskörper aufeinander einwirken, dann tun sie das ohne Verbindungsnetze, durch ihre Schwerkraft. Wie eine Uhr läuft ein Planetensystem, samt Monden und Planetoiden, um die Sonne herum.
Solche Konstellationen haben auch in der Poetik Geltung. Ich bringe Wissenschaft und Poetik enger zusammen mit den Mitteln des Films. Es gibt von Novalis einen schönen Satz: «Das absolut Szientifische und das absolut Poetische sind identisch.» Und das glaube ich von ganzem Herzen.
Sie waren seit Beginn der Pandemie ungebrochen produktiv. Ist dieses Virus im Rückblick auf Ihr bald 90-jähriges Leben überhaupt ein wichtiger Einschnitt?
Nein. Ein Bombenangriff ist ein Einschnitt; das werde ich nie vergessen. Das Virus fürchte ich schon und fordere meine Kinder auf, achtzugeben. Aber ich habe Achtung davor wie vor einem Alien, der auf demselben Planeten lebt. Mich verblüfft, dass diese Virenwelt, die älter ist als die unseres Menschengeschlechts, plötzlich eine solche Macht entwickelt.
Die Fragen stellte Irene Grüter. Das Interview ist ein Ausschnitt aus einem längeren Gespräch, das im Rahmen des «Kultur-Talks» geführt wurde.