Die erste Einstellung ist, wie so vieles an diesem Film, bildliche Perfektion. Ein kleines Mädchen (die Tochter der Filmemacherin, übrigens) steht an einem dunklen Meeresstrand, die Zehen der nackten kleinen Füsse krallen sich in den brandungsnassen, fast schwarzen Kies.
Das Kind entfremdet sich
Das Bild nimmt nicht nur die Schlusseinstellung vorweg, sondern gleich auch den Kern der Filmgeschichte. Denn mit 15, in einer neuen Klasse, in einer neuen Stadt, fühlt sich Mia immer stärker vom Wasser angezogen. Ihr Körper verändert sich von den Füssen an aufwärts. Und die Eltern werden ihr fremder denn je.
Die Angst vor der pubertären Veränderung und Entfremdung vom alten Ich hat schon viele Teenagerfilme inspiriert.
Nicht märchenhaft, sondern monströs
In «Blue My Mind» wird recht bald deutlich, dass Mias Verwandlung nicht nur körperlich und persönlichkeitsbezogen sein wird, sondern auf ein elementar anderes Leben zuläuft.
Mia wird zur Meerjungfrau. Nicht zur liebenswert muschelbedeckten wie in Disneys «Arielle», und auch nicht zur romantisch-tragischen wie im Märchen von Hans-Christian Andersen.
Mias Verwandlung geht eher in die monströse Richtung von Agnieszka Smoczynskas «The Lure» .
Brühlmanns Talent
Die junge Frau wird sich selber unheimlich, sie wird dermassen anders, dass sie ihre Mutter einmal fragt, ob sie allenfalls adoptiert sei – ohne eine Antwort zu bekommen.
Regisseurin Lisa Brühlmann schafft einerseits ein realistisches Teenager-Milieu mit ihren überzeugenden jungen Darstellerinnen. Und sie findet filmische Bilder, die von einem enormen Talent zeugen.
Gekonntes Farbspiel
Den Alltag mit seinem Lärm und dem Schrecken für Mia taucht sie in kalte blaue Bilder. Und wenn die junge Frau im Schlaf oder im Traum in ihre eigene, andere Welt abtaucht, werden die Farben braungelb und warm.
Lisa Brühlmann zeigt Mia und ihre Clique in der ganzen Irritierbarkeit und Fremdheit dieser ebenso verletzlichen wie aggressiven Gören. Und sie schafft, wie schon in ihren viel beachteten Kurzfilmen schnelle, verdrehte, verblüffende Übergänge.
Echo eigener Werke
Wer Brühlmanns Kurzfilme kennt, findet mit Vergnügen das eine oder andere Echo davon in «Blue My Mind». So hat die Regisseurin das mörderische Meerfrauen-Motiv schon 2013 in «Hylas und die Nymphen» innovativ, frech und verblüffend variiert.
Und die Szene, in der Mia ihre Mutter wütend aus dem Zimmer jagt, ist sogar ein wörtliches Selbstzitat aus «Flügge» von 2010.
Gestaltung und Plot von «Blue My Mind» tragen die eindeutige Handschrift von Lisa Brühlmann. Sie kombiniert gekonnt fantastische Elemente mit Alltag, aggressive junge Weiblichkeit mit Verunsicherung und Angst.
Zu plakativ im Mittelteil
Was ihr allerdings noch nicht ganz gelingt, ist die dramaturgische Bändigung des Langfilmformats. So bald einmal klar ist, wo Mias allegorisch-realistische Verwandlung hingeht, braucht es die weiteren Hinweise nur noch bedingt.
Es reicht, wenn die junge Frau einen Fisch aus dem Aquarium verschlingt, dass sie es später im Heisshunger leer frisst, wirkt bemüht, wie auch einige weitere Szenen, die bloss illustrieren, was schon klar scheint.
Hinreissendes Ende (kein Spoiler)
Dabei ist da eine eingespielte Truppe am Werk, zu Brühlmanns fixem Team gehört auch ihr Mann, Filmemacher Dominik Locher, der in diesem Jahr mit seinem «Goliath» ähnlich wuchtiges Penchant für starke Szenen mit dem gleichen Hang zur noch etwas repetitiven Ausdehnung demonstriert hat.
Aber schliesslich entschädigt der effizient und klar eingeführte «Blue My Mind» für die Längen im mittleren Teil mit einem ebenso klaren, konsequenten, hinreissend inszenierten Schluss, der zugleich erschreckt und tröstet.
Lisa Brühlmann ist ein Talent, und ihr Gespür für das Fantastische im Alltag ein gutes Omen für die erzählerische Ausweitung im Schweizer Film.
Kinostart: 9.11.2017