Es beginnt mit einem Schock. In einer baufälligen Villa am Strand hinter einem im Wasser vor sich hin rostendenden Kreuzfahrtschiff sieht eine Mutter ihrem kleinen Sohn dabei zu, wie er grosse Stücke von einem Plastikkübel abbeisst und sie genussvoll kaut und schluckt.
Momente später erstickt sie das Kind mit einem Kissen. Das ist der verstörende Auftakt zu einem Film, der nicht mehr wirklich locker lassen wird.
Operationen als Publikumsshow
Wir treffen auf das Künstlerpaar Caprice (Léa Seydoux) und Saul Tenser (Viggo Mortensen), die sich auf operationelle Performances spezialisiert haben. Saul gehört zu jenen Menschen, die innerlich mutieren. Heisst: Ihm wachsen neue, unbekannte Organe.
Er ist ziemlich sicher, dass er dieses Wachstum mit seiner eigenen Kreativität beeinflussen und steuern kann. In ihren Performances operiert Caprice dann vor Publikum die körperlichen «Neophyten» aus ihrem Partner heraus, in einer umgebauten Obduktionsmaschine vom Typ «Sark».
Die Künstlerkonkurrenz schläft derweil auch nicht. Der populärste Rivale hat sich auf dem ganzen Körper und Kopf Dutzende von weiteren Ohren wachsen lassen. An seiner Performance lässt er sich Mund und Augen zunähen und tanzt expressiv nach Gehör.
Menschliches Wuchern
Es ist eine bizarre Welt, die Cronenberg hier entwirft. Wenn auch nicht ohne Logik. Die Evolution hat die Menschen fast unempfindlich gemacht für Schmerz, körperliche Veränderungen sind normal. Aber würden diese nicht kontrolliert und gezielt beobachtet und gesteuert, sei das auch nichts weiter als eine Art kontrollierter Krebs, meint Caprice einmal verächtlich.
Mutation-Fraktionen
Zudem gibt es Fraktionen. Es gibt die polizeiliche «New Vice» (die «neue Sitte»), weil das besser klinge als Abteilung für verbrecherische physiologische Modifikationen, wie der Detective erklärt.
Weiter gibt es die nationale Registratur für unbekannte Organe. Die ist zwar erst im Untergrund aktiv, aber ihre Betreiber Wippet (Don McKellar) und Timlin (Kristen Stewart) nehmen ihren Job sehr ernst.
In ihren heruntergekommenen Räumlichkeiten werden neue Organe im Körper erkennungstechnisch tätowiert und anschliessend registriert. Zwar sind die meisten noch ohne erkennbare Funktion. Aber das könne sich ja ändern, meint Wippet.
Zurück zu den Film-Anfängen
David Cronenbergs frühe Filme, die ihn berühmt und berüchtigt machten, beschäftigten sich mehr mit der biologischen Zukunft der Menschheit, als jene nach «Crash» von 1996, die sich eher auf die psychologischen und philosophischen Komponenten der Menschlichen Evolution konzentrierten.
«Crash» war eigentlich das perfekte Scharnier. Denn da ging es um Menschen, die sich von Autounfällen und Narben und Wunden sexuell stimulieren liessen. Die Vereinigung von Metall und Fleisch folgte dem Konzept der Biomechanoiden, die auch der Schweizer Künstler HR Giger in seinen Schöpfungen feierte.
Cronenbergs Filme ab der Jahrtausendwende beschäftigten sich mit der psychischen und physischen Kapazität der Menschheit für Gewalt und Missbrauch, etwa «A History of Violence» oder «A Dangerous Method».
Zurück zu den Anfängen
Mit seinem neuen, gerade auf der Handlungsebene sehr konsequenten Film schliesst er nun sozusagen den Kreis. Bei «Crimes of the Future» ist sogar der Titel ein Auto-Recycling: So hiess Cronenbergs zweiter Langspielfilm von 1970.
Ob der Meister mit diesem Film eine neue Evolutionsstufe erreicht hat, darf bezweifelt werden. Im Prinzip ist da wenig Neues zu erleben. Aber die durchaus abgerundete Arbeit eines Könners.