Im Prinzip zeigt uns Jia Zhangke in «Tian zhu ding» (A Touch of Sin) all das, was wir vom modernen, sich rasend schnell umbrechenden China zu wissen glauben. Vom gnadenlosen Kampf aller gegen alle, der Aufsteiger gegen die Kleinen und Armen, von skrupellosen Funktionären bis zu den Sexworkern und den Massenfabriken ist alles da. Und alles schlagend, schreiend ungerecht. Dieser ganzen Ungerechtigkeit stellt der Film die Rachephantasie gegenüber, den blutigen Ausbruch der Ausgebeuteten.
Wer hat schon einen zeitgenössischen chinesischen Film gesehen, in dem in den ersten Minuten ein paar Wegelagerer von einem Wanderarbeiter über den Haufen geschossen werden? Einen Film, in dem der Bewohner einer Minenstadt schliesslich mit der Schrotflinte los zieht, wie einst Michael Douglas in «Falling Down»?
Das System Tarantino
Zhanke lässt diese Momente allerdings nicht überborden. Er erzählt im Staffettenstil die Geschichte einer ganzen Reihe von Figuren, bei denen der Ausbruch jeweils am Ende einer zwingenden Entwicklung ins Nichts steht.
Selten wurde eine politisch-soziologische Bestandesaufnahme eines Landes so kinomässig emotionalisiert und aufgeputscht. Es ist unmöglich zu sagen, ob das nun ein Film ist, den Chinas Behörden dulden oder gar begrüssen würden – dass er bei Publikum extrem gut ankommen würde, liegt aber auf der Hand.
Es wirkt, als habe der erfahrene Dokumentarfilmer Zhangke beschlossen, seine Beobachtungsgabe mit dem System Tarantino aus «Inglourious Basterds» zu kombinieren, der Wut über die Verrohung der chinesischen Gesellschaft gleich noch eine willkommene Emotionsabfuhr beizugesellen.
Höchst wirkungsvoll - höchst manipulativ
Was mich stutzig macht, ist der Umstand, dass dieser Film alles bestätigt, was uns über das moderne China berichtet wird. «Tian zhu ding» lässt nichts aus, der Film karikiert sogar den Umgang der Chinesen mit dem Web und den sozialen Medien, lässt zwei seiner jungen Protagonisten Verfehlungen von Funktionären in den Kommentarfeldern einschlägiger Webseiten beklagen, in einer ebenso komischen wie tragischen Serie von Szenen.
Ich weiss nicht, ob ich mich von meiner Begeisterung etwas zu sehr habe mitreissen lassen. Aber das ist ein Film, der das ganze Können und Wissen eines geübten Filmemachers mit seinem Spass am Kino kombiniert, höchst wirkungsvoll. Aber damit natürlich auch höchst manipulativ.
Die Welt ist bankrott, China nicht
Dass das alles zunächst ganz selbstverständlich als innerchinesische Problemfelder geschildert wird, lässt darauf schliessen, dass der Film nicht in erster Linie für ein westliches Festivalpublikum gemacht ist. Allerdings bleibt noch genügend Fett übrig, dass auch wir einiges davon abbekommen. Der Blick in Fertigungshallen anonymer Produkte erinnert daran, wo unsere billigen Kleider und Gadgets herkommen.
Und einen grossen betretenen Lacher erzielte die Aussage eines Arbeiters, der seinem Kumpel davon abrät, ins Ausland zu reisen. Die anderen Länder der Welt seien doch alle bankrott, darum kämen jetzt doch alle nach China…