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Cannes 2014 «The Captive» vermag einen Bösewicht à la Fritzl nicht fassen

Es ist ein Thriller in Reinform von Regisseur Atom Egoyan: In «The Captive» wird ein Mädchen entführt und jahrelang eingesperrt. Es gelingt ihm, vor dem Peiniger und seinem Pädophilenring zu fliehen – und so ein Martyrium zu beenden, das der Film nur unvollständig zu fassen vermag.

Es ist alles da, was die frühen Filme von Atom Egoyan spannend, komplex und vielschichtig gemacht hat: Langsam aufgedeckte Familientragödien («The Adjuster», 1991), multiple Perspektiven («Family Viewing», 1987) und Obsessionen («Exotica», 1994). Aber etwas fehlt.

Je raffinierter, ausgeklügelter und polierter Drehbücher und Inszenierungen des armenisch-kanadischen Regisseurs werden, desto seelenloser wirken sie. Der Kulminationspunkt liegt bei «The Sweet Hereafter» von 1997, der die Auswirkungen eines Schulbusunfalls mit vielen toten Kindern auf eine Kleinstadt zeigte.

Der diabolische Bösewicht wird nicht fassbar

Das Bild zeigt ein winterlich gekleidetes Paar.
Legende: Mit gezielt platzierten Erinnerungsstücken an die Tochter macht der Entführer den Eltern das Leben zur Hölle. Ego Film Arts

Es gibt keine einfachen Wahrheiten, und jede Geschichte verändert sich, je nachdem, wer sie erlebt, erzählt oder erzählt bekommt. Das ist die Prämisse, welche fast jeden Egoyan-Film angetrieben hat. Und das Geheimnis hinter der Magie seiner früheren Filme liegt nicht zuletzt darin, dass einem alle Erleberinnen und Erzähler ans Herz wuchsen, dass noch die böseste Figur verständlich wurde im Kontext ihrer eigenen Geschichte. Darauf hat Egoyan diesmal verzichtet, vielleicht mit gutem Grund.

Der Entführer in diesem Film, ein diabolisch multipel Perverser, der nicht nur pädophil ist, sondern auch ein Geschichten-Süchtiger (und damit ein Stellvertreter des Publikums und sein eigener Reality-TV-Impresario). Er wird von Kevin Durand mit Gusto, Oberlippenbart und meist offenem Mund als Mischung aus Peter Lorre und John Waters gespielt. Das ergibt zwar einen hassenswerten Thriller-Bösewicht, aber definitiv keine nachvollziehbare menschliche Figur.

Perverse Spiele mit der Vergangenheit

Vielleicht ist das Absicht, einen Fritzl verständlich machen zu wollen, oder den Kampusch-Entführer Priklopil. Tatsächlich ist das aber einigermassen aussichtslos. Mit «Michael» hat der Österreicher Markus Schleinzer 2011 hier in Cannes gezeigt, dass auch die distanzierte Beobachtung des Schrecklichen so etwas wie imaginäre Bilder schaffen kann, die man nicht mehr los wird.

Die dramaturgische Anlage von «The Captive» hätte jedenfalls mehr Möglichkeiten geboten, als Egoyan nun tatsächlich nutzt. Zentral im Plot ist der Umstand, dass der Entführer überall seine Internet-Augen hat. Dass er die hilflosen Eltern beobachtet und dass er sein Opfer an diesen Beobachtungen teilhaben lässt, sie gar einbindet in perverse Spiele mit der Vergangenheit und dem Schmerz der Eltern.

Damit spielt das Drehbuch ausgesprochen raffiniert. Der Täter, der Polizei und Eltern immer voraus ist, der alles sieht und alles hört, der im Hotel, in dem die Mutter als Zimmermädchen arbeitet, gezielt Objekte liegen lässt, welche an das kleine Mädchen von damals erinnern: Das ist ein grossartiges Gimmick für einen cleveren Thriller.

Egoyans Filme sind mehr und mehr Kopfgeburten

Der clevere Thriller ist auch durchaus vorhanden. Mit Rosario Dawson als schöner Polizistin, Kevin Reynolds als überfordertem, aber hartnäckigem Vater und etlichen weiteren Figuren, die ein ganzes Panorama bilden.

Fetischismus und Voyeurismus waren Egoyans bevorzugte Themen in den frühen 90er-Jahren. Damals hat er seine Filme aber wie Versuchsanlagen aufgestellt, man entdeckte als Zuschauer mit dem Regisseur gemeinsam, wie erschreckend und wie faszinierend Menschen funktionieren.

Durchkonstruierte Menschenkenntnis

Cannes: Frisch ab Leinwand

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SRF-Filmkritiker Michael Sennhauser schaut sich in Cannes dutzende Filme an und schreibt über seine ersten unmittelbaren Eindrücke.

Mehr Filmbesprechungen unter sennhausersfilmblog.ch .

Unterdessen aber scheint Egoyan die Erkenntnisse fixiert zu haben und sie nur noch in immer neuen Varianten durchzuspielen. Ein Beispiel dafür war der eben so clevere wie letztlich sterile Thriller «Where the Truth Lies» von 2005. Das war eine Geschichte um Mord und Intrigen im Showbusiness, mit Colin Firth und Kevin Bacon, schön besetzt und handwerklich erstklassig umgesetzt. Aber da war schon der Titel mit der lügenden beziehungsweise liegenden Wahrheit programmatischer, als für den Film letztlich gut war.

Es fehlen die Antworten

Mit «Adoration» gelang ihm 2008 noch einmal fast ein «alter» Egoyan. «Eine Kopfgeburt, aber sehr kinogerecht» schrieb ich damals über den Film, ein wenig wehmütig. Das gilt auch jetzt wieder. «The Captive» schlägt die Brücke vom «alten» zum «neuen» Egoyan – ein clever konstruierter Thriller mit vielseitiger thematischer Anbindung (und etlichen Verbeugungen vor dem Unterhaltungskino, mit Rosario Dawsons Beinen inszeniert Egoyan gar eine Hommage an Tarantinos «Death Proof»).

Der clevere Thriller aber entpuppt sich als Schreibtischkonstruktion, mit logischer, aber eher antiklimaktischer Auflösung, und vor allem an der von ihm angedeuteten wirklichen Frage vorbei inszeniert: Was passiert mit Menschen in solchen acht Jahren? Mit dem gefangenen Mädchen? Mit den Eltern? Angedeutet wird etliches. Aber wirklich nachbohren mag der Film nicht. Vor zwanzig Jahren wäre das für Egoyan aber zentral gewesen.

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