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Film & Serien «Chimères»: Auch Schweizer können Vampirfilme drehen

Der erste Langspielfilm des Neuenburgers Olivier Beguin ist eine schöne Überraschung. Mit «Chimères» ist nicht einfach ein Lokalmatador im internationalen Wettbewerb des NIFFF gelandet, sondern ein smarter, extrem sorgfältig gemachter Film, der die Genre-Grenzen überwindet und erweitert.

Im Kern erzählt Beguin eine Liebes- und Beziehungsgeschichte, die auf die Prüfung gestellt wird, als der Mann psychische Probleme bekommt. Livia (Jasna Kohoutovna) und Alexandre (Yanick Rosset) sind verliebt und in Rumänien in den winterlichen Ferien. Nach einem etwas zu feuchten Abend wird er angefahren und ins Spital gebracht. Aber die eigentlichen Probleme beginnen erst zu Hause. Alexandre wird sich fremd, erschrickt ab dem eigenen Spiegelbild und erträgt kein Tageslicht mehr.

Phantastischer Mythos in realistischer Gegenwart

Livia kümmert sich liebevoll und sorgfältig um ihn. Aber als er einen Zeitungsartikel über kontaminierte Bluttransfusionen in einem rumänischen Spital in die Finger bekommt, reagiert er paranoid.

Der Neuenburger Olivier Beguin hat mit «Chimeres» seinen ersten Langspielfilm realisiert.
Legende: Der Neuenburger Olivier Beguin hat mit «Chimères» seinen ersten Langspielfilm realisiert. NIFFF

Es ist stets der Transfer eines phantastischen Mythos in eine psychologisch und sozial realistisch gezeichnete Gegenwart, welche den wahren Horror dieser Geschichten auslotet. Das war so bei den Body-Horror-Filmen von David Cronenberg und das ist so bei jenem Film, an den mich «Chimères» gestern immer wieder erinnert hat: «Låt den rätte komma in» von Tomas Alfredson (gesehen übrigens am NIFFF 2008 und unterdessen auch als deutlich schwächeres US-Remake unter dem Titel «Let Me in» erhältlich).

Das war die Geschichte eines geplagten Schuljungen, dem das seltsame, aber offensichtlich starke und furchtlose Nachbarsmädchen hilft, sich gegen die Quälereien der anderen zu wehren. Die Kraft dazu bezieht sie aus ihrem eigenen Problem: Sie lebt von Blut, ist eine Aussenseiterin und einsam wie er.

Packende Geschichte, sorgfältige Inszenierung

Es war ein feinfühliger, mutiger Film über Jugendiche, der seine Kraft aus Genre-Elementen bezog. Das funktioniert ja eben gerade darum, weil das Genre-Kino nie aus der Leere kommt, sondern stets an tiefe Ängste oder Hoffnungen appelliert. Olivier Beguin hat nun diese Transzendierung ebenfalls geschafft. Er erzählt eine Beziehungsgeschichte mit eigentlich alltäglichen Paarproblemen, gesteigerter Selbstbezogenheit des einen Partners, Opferbereitschaft des anderen. Eine Geschichte, wie sie in den 60er-Jahren in der Westschweiz mit heiligem Ernst und antibürgerlichem Reflexe inszeniert worden wäre – aber um Himmels willen ohne einschlägige Elemente.

Wenn nun Olivier Beguin einen Mann zeigt, der glaubt, er werde zum Vampir, dann tut er das in der soliden Tradition des Westschweizer Cinéma copain, mit kleinem Budget, begeisterten Mitstreitern, einem Minimum an Schauspielern und gedreht an Originalschauplätzen. Dass uns die Geschichte packt, liegt zum einen an der starken Leistung von Jasna Kohoutovna und Yanick Rosset, und an der extrem sorgfältigen Inszenierung und Montage. Aber natürlich auch daran, dass der Film unseren Fundus abruft, unser Wissen über Vampire, unsere früheren, ernsthaften und weniger ernsthaften Überlegungen zum Thema.

Starke Variation des Vampir-Mythos

Die seit Jahren andauernde Popularität der Vampire in allen möglichen Variationen hat ja genau mit diesen Pop-Wurzeln zu tun, mit der Möglichkeit, das an und für sich banale Bild des Blutsaugers in der Gesellschaft unendlich zu variieren, weil wir immer wieder auf bekannte Elemente stossen. Olivier Beguin hat – handwerklich, technisch, inszenatorisch und dramaturgisch – einen reifen, berührenden, starken Film gemacht. Aber er ist auch sich und seiner Liebe zum Genre absolut treu geblieben. Chimères ist kein Problemfilm mit Tarnkappe, sondern gutes Kino. Gute Kunst. Dass er noch keinen Schweizer Verleiher hat, ist gerade darum nicht ganz unerwartet.

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