Jean-Stéphane Bron lernte Claude Muret anfangs der 1990er-Jahre auf einem Filmset kennen. Bron arbeitete als Stagiaire, Muret hatte eine Rolle im Film. Die beiden freundeten sich an. Einige Monate später erhielt Muret, der sich als Jugendlicher für den revolutionären Traum der militanten Linken engagiert hatte, ein dickes Bündel mit seinen Fichen, die der Kanton Waadt über ihn gesammelt hatte. Und Bron realisierte sehr schnell: Das würde der Auslöser für seinen ersten Dokumentarfilm sein.
Jean-Stéphane Bron, ist Ihnen ihr Debutfilm «Connu des services» heute noch nah?
Er ist mir noch nah durch seinen Protagonisten Claude Muret und durch das ganze Thema. Es hat nichts an Bedeutung verloren, wie wir das gerade aktuell in einer neuen Dimension erfahren. Gleichzeitig hat in den vergangenen 16 Jahren auf dem Gebiet der Überwachung eine so immense Entwicklung stattgefunden, dass der Film auch wieder weit weg gerückt wird. Die damaligen Bespitzelungsmethoden muten ja geradezu steinzeitlich an. Und wer konnte ahnen, dass 15 Jahre später Millionen von Leuten freiwillig ihr Leben mit dem Rest der Menschheit teilen würden? In diesem Sinne scheint die Fichenaffäre sehr weit weg zu sein.
Wie wurde die Begegnung mit Claude Muret zum auslösenden Element?
Ich habe miterlebt, wie tief aufgewühlt er war, als ihm das Fichenbündel plötzlich sein ganzes jugendliches Leben in allen kuriosesten Details wieder vor Augen geführt hat. Ein Leben, wie es ihm durch die minutiöse Überwachung der Geheimpolizei erzählt wurde.
Was war die besondere Herausforderung bei diesem Projekt?
Zum einen war es diese generelle Schwierigkeit, einen Film über etwas zu machen, das bereits passiert ist. Ich musste mit Erinnerungen arbeiten: Wie würde ich diese spezifische Vergangenheit lebendig machen können? Hier habe ich mich stark von Richard Dindo inspirieren lassen. Zum andern war es sehr schwierig, die Geheimpolizei dazu zu bringen, am Film mitzuwirken. Es dauerte, bis ich nur schon die Personen eruieren konnte. Und dann folgte noch ein langer Überzeugungsweg.
Wie gelang es Ihnen, die Geschichte so emotional und doch so sachlich zu erzählen?
Einerseits bringe ich viel Emotion und Empathie für die Protagonisten auf, andererseits bin ich rational bemüht, bei der Story zu bleiben und sie möglichst gut zu erzählen. Es geht darum, die richtige Distanz zu finden. Mir geht es in den Filmen nicht darum, dem Publikum nahezubringen, was ich denke, sondern eine Reflektion zu ermöglichen und wahrhafte Emotionen zu bieten.
Sie haben bisher nur einen Spielfilm gedreht. Interessiert sie der Dokumentarfilm mehr?
Mein Instrument ist der Dokumentarfilm. Ich bin nicht sicher, ob ich gut darin wäre, mit Schauspielern zu arbeiten. Aber meine Filme haben trotzdem eine Nähe zur Fiktion, zu gewissen Ebenen eines Spielfilms. Da ich eine Geschichte erzählen will, habe ich keine Angst vor Reenactments, also Nachstellungen oder Neuinsenzenierungen von konkreten geschichtlichen Ereignissen. Das habe ich etwa im Film «Mais im Bundeshuus» oft gehandhabt. Wenn Politiker telefonieren oder bestimmte Handlungen ausführen, ist das immer nachgestellt.
Trotzdem ist das für sie immer noch ein Dokumentarfilm.
Ich schreibe nie Dialoge und zeige auch nie etwas, was nicht passiert ist. Ich versuche, die Realität quasi neu zu erfinden, indem ich sie verdichte und mich dabei auf konkrete Beobachtungen stütze. Das braucht auch einen besonderen Umgang mit den Protagonisten. Sie müssen ihre Rolle spielen, aber gleichzeitig auch das Gefühl bekommen, dass sie für ein Publikum spielen. Das ist oft ein langer Prozess.
Ist der Umgang mit Emotionaliät in einem Dokumentarfilm anders als in einem Spielfilm?
Ich denke nicht. Beide Genres wollen eine Geschichte möglichst intelligent erzählen und setzen dabei auf Emotionen. Die Herausforderung eines Dokumentarfilmes ist heute eine besondere: Wir leben in einer Welt voller Bilder, wie sie von Handys, Screens, Monitoren unablässig vermittelt werden. Das ist wie das Rohmaterial der Realität. Dieser Kontext verlangt nach einer anderen Darstellung, als einfach abzubilden. Der Dokumentarfilm ist nicht die Realität. Die Realität ist nur der Ausgangspunkt. Von dort aus machst du den Film und spielst mit den Mitteln des Kinos.
Was lernten Sie von Ihrem Debutfilm im Hinblick auf ihre späteren Werke?
Zum einen ist man nie zufrieden und erhält so wieder Anstoss, den nächsten Film zu machen. Was ich sicher gelernt habe ist, die richtige Distanz zum Thema und zu den Protagonisten zu finden. Das ist die Grundsatzfrage, deren Antwort sehr stark die Wirkung des Films bestimmt.