Während Schweizer Spielfilme den Sprung über die Landesgrenzen nur selten schaffen, sind Schweizer Dokumentarfilme seit Jahrzehnten auf allen Märkten präsent.
Werden Schweizer Dokumentarfilme auf internationalen Erfolg hin geplant? Im Rückblick mag das manchmal so aussehen, bei Markus Imhoofs «More than Honey» (2012) zum Beispiel.
Unverwechselbare Erfolgsbienen
Das Bienensterben ist ein internationales Phänomen, die Menschen interessieren sich überall dafür. Imhoofs Makro-Flugaufnahmen der Bienen waren schlich einzigartig und faszinierend. Klar sind die Leute da weltweit ins Kino geströmt, oder?
So einfach ist es nicht. Das Thema des Bienensterbens machte der World Sales Agency, der internationalen Verkaufsagentur, die Arbeit zwar leichter. Und die faszinierenden Flugaufnahmen waren gut für wirkungsvolle Kinotrailer und Mund-zu-Mund-Propaganda. Aber die Seele des Films – die verlieh ihm der Regisseur Markus Imhoof persönlich.
Schweizer Dokumentarfilme reisen, weil sie unverwechselbar sind, persönlich, subjektiv.
Persönlicher Zugang entscheidend
Sabine Gisiger hat letztes Jahr mit «Willkommen in der Schweiz» die Geschichte um Oberwil-Lieli und die politische Verweigerung der Flüchtlingsaufnahme fast gleichnishaft aufgearbeitet.
Ihren weltweit grössten Erfolg hatte sie aber 2014 mit «Yalom’s Cure» , ihrem Dokumentarfilm über den amerikanischen Psychoanalytiker Irvin D. Yalom und seine Bücher.
Gisiger ist überzeugt, dass ihr persönlicher Zugang, ihr persönliches Interesse an dem Mann und seiner Arbeit entscheidend war. Sie hat Yaloms Bücher gelesen, als sie mit dem Tod ihres eigenen Vaters zurechtkommen musste: «Indem ich selber erlebt hatte, wie sein Denken wirken kann, hatte ich einen subjektiven Zugang, der mir ermöglichte, herauszufinden, wie man das filmisch umsetzen kann.»
Persönliche Erinnerung, allgemeines Interesse
Auch die Filmemacherin Eva Vitija kam vom eigenen Interesse zum allgemeinen Thema. Ihr Ausgangsmaterial für «Das Leben drehen» waren die unzähligen Stunden Familienfilm, die ihr Vater gedreht hatte.
Zu seinen Lebzeiten wollte sie das nicht einmal anschauen. Aber nachdem Vitijas Vater gestorben war, merkte sie plötzlich, dass die Arbeit mit diesem privaten Filmmaterial zu einem übergeordneten Thema führte: das Filmen und die Unterschiede von privatem und professionellem Filmen.
Wer Feuer und Flamme ist, kann anstecken
Produzentin Franziska Reck nennt dieses «persönliche Feuer» für ein Thema sogar als erste Bedingung dafür, dass sie ein Projekt angeht. Als etwa die Autorin Anka Schmid mit ihrer Idee ankam, Raubtierdompteusen in verschiedenen Ländern zu porträtieren, sei ihre Begeisterung auschlaggebend gewesen: «Man merkte, diese Person musste diesen Film einfach machen.»
So entstand schliesslich «Wild Women – Gentle Beasts». Mit einem englischen Titel, um der Verkaufsagentur die Arbeit leichter zu machen.
Know-how wächst über Generationen
Aber die Schweizer Dokfilmszene ist nicht nur darum lebendig, weil ihren Exponenten immer wieder einzigartige Filme gelingen. Sie lebt auch von ihrer Tradition, ihrem Selbstbewusstsein und ihrem Know-how – in jeder Hinsicht.
Während der Spielfilm sich alle zwei, drei Generationen neu erfinden muss, das Kino der Eltern zu überwinden sucht und dabei immer wieder fast bei Null anfängt, steht der Dokumentarfilm in der Schweiz solide auf den Schultern der vorhergehenden Generationen.
Das zeigt sich auch darin, dass Spezialisten wie Sounddesigner Peter Bräker oder Schnittmeister Kaya Inan über ihre Arbeit an Schweizer Dokumentarfilmen zu international gesuchten Kräften werden. Gerade das Sounddesign, von dem die wenigsten Leute überhaupt wissen, dass es existiert, ist enorm wichtig geworden.
Jede Flamme neu vertont
Jan Gassmann erinnert sich an die Details in «Europe, she loves» – seinem Versuch, Europa von den Rändern her zu erfahren, aus der Sicht und den Schlafzimmern von verschiedenen Paaren. Im Film gab es immer wieder Szenen, in denen, wie er sagt, «eigentlich nichts passiert ist, wo vor allem geraucht wurde.»
Also habe ein Spezialist in Paris, einer, der sonst auch für Lars von Trier arbeite, den ganzen Film noch einmal «durchgeraucht», jedes Aufflammen, jedes Abstreifen von Asche nachvertont. Der Ton habe diesen Szenen eine völlig neue Dimension gegeben. Das klingt absurd. Aber wer den Film gesehen hat, weiss, wie durchschlagend die Wirkung seiner Tonspur ist.
Per Streaming zum Publikum
Schweizer Dokumentarfilme reisen an Festivals. Sie verkaufen sich auch ins Ausland, selbst in Länder, in denen sie nie eine Kinoleinwand sehen werden. Vertriebswege abseits des Kinos sind international in Mehrzahl: Abnehmer sind Fernsehstationen, und zunehmend auch Streamingplattformen. Gerade dort hat der Serienboom mit realitätsnahen Produktionen wie «Narcos» zu einem verstärkten Interesse an dokumentarischen Formaten geführt.
Anders als die weltweit beliebten, spektakulären Tier- und Naturfilmproduktionen, machen sich die Schweizer Dokumentarfilme über ihre Persönlichkeit, beziehungsweise jene ihrer Macherinnen und Macher, unverwechselbar.