27. Juni 2003: Im Fairfax Cinema am Beverly Boulevard in Los Angeles feiert «The Room» Premiere. Ein Film, von dem Sie vermutlich noch nie gehört haben. Ein Film, der Geschichte schreiben wird.
Viele Gäste sind über Schauspieleragenturen gemietet, um den Saal zu füllen. Die Crew des Films ist anwesend. Und vor allem der Mann, für den diese Premiere der wichtigste Moment seines Lebens ist: Tommy Wiseau, Regisseur, Autor, Produzent und Hauptdarsteller von «The Room».
99 Minuten lang in den Kopf gestochen
«Das ist mein Film. Das ist mein Leben.» sagt Wiseau zum Premierenpublikum. Der Vorhang hebt sich und zum ersten Mal flimmert das cineastische Grauen über die Leinwand, das Wiseau für ein Meisterwerk hält. Für den normalen Zuschauer fühlen sich die 99 Minuten an, als werde man dauernd mit einem Messer in den Kopf gestochen, schreibt ein Kritiker.
Wiseau sieht seinen Film als ein grosses amerikanisches Drama, das von Liebe, Freundschaft und Verrat handelt. Er lobt sich selbst als «den neuen Tennesse Williams» und schafft es nicht, den Vornamen seines Idols richtig zu schreiben.
Logik? Braucht's nicht!
Williams würde sich im Grab umdrehen, müsste er die Dialoge aus «The Room» über sich ergehen lassen. «Oh, Hi Mark! – Hi Johnny! – How are you, Mark?» ist das hölzerne Begrüssungsritual, das sich regelmässig wiederholt.
Noch schlimmer sind die logischen Löcher in der Handlung. Da taucht ein Drogendealer auf, fuchtelt wild mit einer Waffe, will Geld und verschwindet – ohne Geld – auf Nimmerwiedersehen. Die Mutter der Hauptdarstellerin erzählt ihrer Tochter, dass sie an Krebs erkrankt sei. Scheint irgendwie egal, das Thema taucht nie mehr auf.
Gackern in den Liebesszenen
Einen verstörenden Eindruck hinterlassen die Liebesszenen. Ein Bett, behängt mit durchsichtigem Tuch, rote Kerzen, schnulziger Soundtrack und Hauptdarsteller Wiseau, der vor lauter Wohlgefallen dauernd ein gackerndes «Ah-ha-ha» von sich gibt. Spätestens jetzt wird jedem klar, der Mann kann nicht schauspielern.
«The Room» läuft zwei Wochen im Kino und spielt 1800 Dollar ein. Gekostet hat die Produktion 6 Millionen Dollar. Ein finanzielles Desaster.
Hollywood feiert «The Room»
Dann passiert das Unfassbare. Zwei junge Filmstudenten besuchen eine der letzten Filmvorstellungen. Sie entdecken die andere Seite des Films: die Faszination, dass jeder Szenenwechsel zum Cliffhanger wird. Was läuft als nächstes schief? Welches Gräuel erwartet uns? Oder nur Langeweile? Können wir den Sinn der Handlung entziffern? Die beiden teilen ihre Begeisterung mit Freunden, organisieren weitere Vorführungen.
Der Kreis der Fans vergrössert sich immer weiter: Selbst Hollywood-Grössen veranstalten private Partys, an denen er gezeigt wird. Die Medien berichten über den Film. Filmwissenschaftler beschäftigen sich damit. «The Room» avanciert zum Kultfilm.
Das grosse Mysterium Tommy Wiseau
Befördert wird der Hype um «The Room» durch das Mysterium Tommy Wiseau. Der Mann macht um alles, was seine Person angeht, ein Geheimnis.
Sein Akzent legt nahe, dass er aus Osteuropa stammt. Doch Wiseau gibt nur preis, er habe in Frankreich gelebt, dann in New Orleans. Sein Alter deutet er vage an: um die Mitte 30, als er den Film drehte. Wahrscheinlicher ist, dass er 10 bis 15 Jahre älter war.
Wiseau – ein gesuchter Erpresser?
Das grösste Geheimnis: Woher hatte Wiseau die sechs Millionen Dollar für den Film? Er behauptet aus Geschäften mit Kleidern. Unter Fans kursieren aber jene Verschwörungstheorien.
Die wildeste: Wiseau sei in Wahrheit D.B. Cooper. Jener Erpresser, der 1971 das FBI narrte. Er entführte ein Flugzeug, sprang mit Fallschirm und Lösegeld aus dem Flugzeug ab und wurde nie gefunden.
2013 erscheint das Buch «The Disaster Artist». Greg Sestero, der in «The Room» die zweite männliche Hauptrolle spielt, erzählt die Entstehungsgeschichte des Films und von seiner langjährigen, komplizierten Freundschaft mit Tommy Wiseau.
Auf die Seele gezielt, den Lachnerv getroffen
Die Dreharbeiten, so zeigt das Buch, waren eine einzige Katastrophe. Wiseau war als Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller völlig unfähig. Aber eines kann man ihm nicht absprechen: seine wilde Entschlossenheit. Er hat sich den Traum erfüllt, einen Film zu drehen, von dem er glaubt, er werde die amerikanische Seele in ihrem Innersten erschüttern.
Auch wenn der Film weniger die Seele als mehr den Lachnerv trifft, «The Room» hat Filmgeschichte geschrieben. So mag man Tommy Wiseau gönnen, dass ihm heute grosse Anerkennung gezollt wird – als Macher des «besten aller schlechten Filme».