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Film & Serien Dogma 95: Mit Wackelkamera gegen MTV-Ästhetik

Körnige, blasse und verwackelte Bilder, ungesäuberte Tonspuren: Die dänischen Dogma-Filme waren in den späten 90ern quasi der Grunge des Autorenkinos. Was sich Lars von Trier damals ausdachte, hat heute allerdings fast nur noch historische Bedeutung.

Zuerst wurde Dogma belächelt. Als Lars von Trier im März 1995 mit seiner Idee eines filmischen Keuschheitsgelübdes an die Öffentlichkeit trat und ein von drei weiteren dänischen Regisseuren unterzeichnetes Dogma-Manifest vor die Kameras hielt, war er bereits für bizarre Aktionen und Provokationen bekannt. Und nun wollte er also zum Gründer einer neuen Kunstbewegung werden, die so ziemlich alles verbot, was am Kinospielfilmformat Spass machte: keine dekorierten Sets, keine Stative oder anderweitige Halterungen für die Kamera, kein künstliches Licht, keine atmosphärische Musik, keine konstruierten Wendepunkte in den Geschichten und so weiter.

Vom langweiligen Konzept zum internationalen Erfolg

Ein gut gemeinter Gegenentwurf zur damals grassierenden MTV-Ästhetik mochte das ja sein, aber sonst? Man langweilte sich bei der blossen Vorstellung und vergass die Geschichte.

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Am 24. Oktober, 00.15 Uhr zeigt SRF 1 «Die Jagd» von Thomas Vinterberg.

Drei Jahre später, 1998, wurde man dann aber eines Besseren belehrt: Von Trier hatte «Idioterne» fertiggestellt, Thomas Vinterberg sein «Festen». Beide Werke schlugen ein wie Bomben, sie fanden internationale Beachtung. Der dänische Film hatte plötzlich wieder ein unverkennbares Gesicht, das Projekt Dogma, ursprünglich eine Parodie auf das gängige Arthouse-Kino, wurde zu einem respektablen finanziellen Erfolg und vor allem zu einem begehrten Label, das Autorenfilmer aus diversen Ländern anzog. Selbst aus der Schweiz: «Joy Ride» von Martin Rengell kam im Jahr 2000 in die Kinos.

Dann sank die Qualität der Drehbücher

Ebenfalls im Jahr 2000 feierte der Däne Lone Scherfig mit seiner Dogma-Komödie «Italiensk for begyndere» einen Publikumserfolg. Doch wenig später war die Luft draussen. Die dänischen Hüter des Dogma-Stempels verloren zunehmend das Interesse an ihrem Baby und vergaben ihr Gütesiegel freigiebig auch an Produktionen, die sich weder an die strengen Regeln hielten noch für eine internationale Auswertung geeignet waren. Die Qualität der Drehbücher sank, und das Ausbleiben von technischem Schnickschnack machte dies umso spürbarer.

Vorwegnahme der heutigen Filmwelt

Was hat Dogma aus der heutigen Sicht gebracht? Sicher eine eigenwillige Ästhetik, die auf ewig den späten Neunzigern und der Jahrtausendwende verhaftet bleibt, weil sie den damaligen technischen Stand von digitalen Hand- und Schulterkameras (mit Transfer auf 35mm-Filmmaterial) samt ihren zahlreichen Mängeln erfasste. Sicher eine geschickte Vorwegnahme der heutigen cineastischen Welt, in der mobile, federleichte Kameras zum Alltag gehören, und die Phänomene wie den amerikanischen Mumblecore hervorbringt. Und ganz sicher der Beweis, dass eine gute Geschichte auch ohne riesiges Budget einen ansehnlichen Film hergeben kann.

Dogma ist tot

Heute ist Dogma tot. Die körnigen, blassen, verwackelten Bilder dieser Filme gehören bereits zu einer anderen Epoche. Die offizielle Website wurde 2008 vom Netz genommen, eine inoffizielle Seite hält noch die Flagge hoch. Dort waren bis vor kurzer Zeit unglaubliche 322 Dogma-Filme aufgelistet, von denen die meisten allerdings nie existierten: Es handelte sich um Scherzeinträge eines infantilen Hackers, der das Online-Formular manisch für die Eingabe politisch inkorrekter und pornografischer Titel missbrauchte. Mittlerweile herrscht wieder Ordnung auf der Seite, die Auswahl beschränkt sich nun wieder auf 35 offizielle Dogma-Titel; Eingaben sind keine mehr möglich.

Thomas Vinterberg ist auch nach den Dogma-Jahren einer der grossen dänischen Regisseure geblieben, sein letzter Film «Jagten» sorgte ohne formales Ausreissen für viel Gesprächsstoff. Für nächstes Jahr hält er eine Thomas-Hardy-Verfilmung bereit. Aber von Trier? Wer weiss, vielleicht wird er uns demnächst die Kapselendoskopie als cineastische Revolution schmackhaft machen.

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