Worum geht es bei dem Festival? «Visions du Réel»ist ein internationales Filmfestival in Nyon, das dieses Jahr bereits zum 54. Mal stattfindet, vom 21. bis 30. April. Ungewöhnlich daran ist, dass sich «Visions du Réel» ganz den Dokumentarfilmen widmet. Denn diese schaffen es oft gar nicht erst ins Kino, sondern landen direkt im Fernsehen oder bei Streaminganbietern.
Was macht diese Dokfilme aus? Viele seien nahe am Zeitgeschehen, erklärt SRF-Filmredaktor Michael Sennhauser. «Eines der grossen Themen ist die Migration.» Das habe bereits der französische Eröffnungsfilm «Veilleurs de nuit» von Juliette de Marcillac gezeigt: Darin geht es um Freiwillige, die nachts Geflüchtete in Montgenèvre in Empfang nehmen, einem Skigebiet zwischen Frankreich und Italien.
«Die Leute liefern sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei», so Sennhauser. «Sie versuchen, so viele Migrantinnen und Migranten wie möglich ins Immigrationszentrum zu bringen, bevor sie wieder abgeschoben werden.» Das Ganze erinnere an «Reise der Hoffnung» von 1990, dem letzten Schweizer Film, der einen Oscar gewann.
Gibt es auch Schweizer Dokumentarfilme zu sehen? Ja, mehrere. Besonders überzeugt hat den SRF-Filmredaktor «Ruäch», ein Dokfilm über Jenische. Die beiden Filmemacher Andreas Müller und Simon Guy Fässler wollten keinen Film über Jenische machen, sondern mit ihnen. Das sei ihnen gelungen, so Sennhauser.
«Ruäch» habe es in sich: Fast alle der älteren Jenischen, welche die beiden über mehr als sieben Jahre hinweg mit der Kamera begleitet haben, erzählen beiläufig von der Aktion «Kinder der Landstrasse» und von Verachtung und Quälereien.
Eine Protagonistin erinnert sich, wie ein Arzt sie als junge Frau belogen habe: Sie leide an einem gefährlichen Krebs, habe er behauptet, um sie dann heimlich zu sterilisieren. «Eine Zigeunerin mehr, die sicher keine Kinder bekommen wird», habe sie ihn zur Praxishilfe sagen hören, als sie noch einmal zur Türe hereinkam, um etwas Vergessenes zu holen.
«Ruäch» vergeht wie im Flug, findet Sennhauser. Der Film lebe von der Freundschaft zwischen den Filmemachern und den Jenischen, die sich über die vielen Jahre entwickelt hat.
Welche Highlights gibt es noch zu entdecken? Eindrücklich fand Michael Sennhauser auch «Pure Unknown» von Valentina Cicogna und Mattia Colombo, den Eröffnungsfilm des internationalen Wettbewerbs. Er widmet sich den Tausenden von unidentifizierten Leichen von Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer.
Der Film folgt eine Mailänder Professorin für forensische Medizin, die auf europäischer Ebene darum kämpft, dass man diese Unbekannten alle identifiziert. So können zumindest ihre Angehörigen benachrichtigt werden.
Wie steht es um aktuelle Themen wie den Ukrainekrieg oder die Bankenkrise? Weil Dokfilme über mehrere Jahre entstehen, gibt es hierzu noch nicht viele Filme. Eine Ausnahme ist «In Ukraine». Die Filmemacher sind gleich nach dem Angriff auf das Land dazu übergegangen, zu verfolgen, was dieser mit der Ukraine macht.
In vielen Filmen sind dagegen die Coronapandemie und ihre Folgen gegenwärtig, etwa bei «Fauna» vom Spanier Pau Faus, für Sennhauser «ein absolut hinreissender Film». Darin geht es um die Impfforschung.
«Der Film spielt zwischen Schäferherden und einem Forschungsinstitut mit Tierversuchen. Das ist einerseits grotesk und andererseits einfach grossartig», so der Filmredaktor.