«Irgendwann verlieren wir unsere Fähigkeit, wichtige Entscheidungen zu treffen», sagt Geoff an der Feier zum 45. Hochzeitstag mit seiner Kate. «Darum sind die Entscheidungen unserer jüngeren Jahre so wichtig.»
Der erste Satz klingt wie etwas, was Jean-Louis Trintignant in Michael Hanekes Film «Amour» hätte sagen können. Aber Andrew Haighs wunderbarer Film mit Tom Courtenay und Charlotte Rampling ist eher ein Gegenmanifest als eine Ergänzung zu Hanekes Bittermandel.
Nagende Zweifel
Dabei ist auch Haighs Geschichte eines alten Ehepaares in einem kleinen englischen Landhaus nicht ohne Bitternis. Allerdings geht es für Geoff und vor allem für Kate eher darum, wie eine späte Erkenntnis die Perspektive auf ein ganzes Leben verändern kann.
Ein paar Tage vor dem von Kate geplanten Fest zum 45. Hochzeitstag erhält Geoff einen Brief aus der Schweiz, der ihm eröffnet, dass die Leiche seiner vor 50 Jahren auf einer gemeinsamen Bergtour abgestürzten Freundin im Eis eines Gletschers gefunden worden sei. Bei Geoff löst das vor allem Erinnerungen aus, bei Kate zuerst misstrauische Neugier und schliesslich nagende Zweifel.
Zwar hatte Geoff ihr von der Freundin und dem Unfall erzählt, nicht aber, dass die beiden hatten heiraten wollen. Das sei nicht gerade etwas, was man seiner schönen neuen Freundin in den ersten Wochen der Beziehung erzähle, meint Geoff rückblickend.
Eine präsente Charlotte Rampling
Andrew Haigh schildert den Alltag des Ehepaars mit Schäferhund Max, Spaziergängen in den Feldern zwischen den Hecken, Fahrten in die Stadt zum Einkaufen, zum Bibliotheksbesuch oder ins Café. Charlotte Rampling ist einleuchtend präsent als pensionierte Lehrerin, als eigenständige, lebenslang selbstbestimmte Frau an der Seite ihres sichtlich alt gewordenen Geoff.
Und Tom Courtenay ist einnehmend in der Rolle des liebenswürdigen britischen Altlinken, näher bei Ken Loach selber als bei einer von Ken Loachs Figuren, leicht abwesend manchmal, eigensinnig, charmant und ein ganz klein wenig auch schon trottelig – «decrepit» nennt er es selber, und es rührt einen mehr, als dass es Bedauern auslösen würde.
Verlorene Möglichkeiten
Es ist diese britische Pensionärsidylle, die einnimmt, die mich als Zuschauer weich macht und schutzlos. Und entsprechend hart scheinen denn auch die umfassenden Zweifel, welche Kate urplötzlich den gemeinsamen 45 Jahren entgegenbringt. Kinder hatten sie keine, Fotos gibt es so gut wie keine, und plötzlich taucht beides als verlorene Möglichkeit im Leben von Geoff auf, auf alten Diapositiven.
Die hat Geoff in einer schlaflosen Nacht auf dem Dachboden nicht nur ausgegraben, sondern da oben versteckt auch gleich auf ein Leintuch projiziert. Und als Kate während Geoffs Abwesenheit auf den Estrich steigt, stolpert sie direkt in seine Vergangenheitsprojektionen, von denen sie keine Ahnung gehabt hatte.
Ein Spiel mit Nostalgie und Trauer
Es ist kein schockierendes Geheimnis aus der Vergangenheit des einen, welches die beiden Alten einholt. Es ist die simple Erkenntnis, dass die eigenen Träume und Lebensentwürfe nie völlig zur Deckung kommen können mit denen des Partners.
Andrew Haigh ist ein feinfühliger Film gelungen. «45 Years» ist ein Spiel mit Nostalgie und Trauer, mit dem Altern und mit dem, das sich nicht ändert, sondern verflüchtigt, wenn wir nicht gewillt sind, es immer und immer wieder zum Leben zu erwecken.