Regisseur Jia Zhangke zeigt in meisterhaft poetischen Bildern ein China, das jenseits der glitzernden Metropolen existiert. Es ist die Welt der Wanderarbeiter. Sie machen nach Schätzungen circa einen Fünftel der chinesischen Bevölkerung aus. Diese Menschen sind ständig Ausweiskontrollen und Schikanen ausgesetzt. Denn oftmals halten sie sich illegal auf in den Städten, in denen sie Arbeit finden.
Gewalt als Mittel gegen Ohnmacht
Ein Grossteil der Bevölkerung bleibt somit chancenlos, wertlos. Die Kluft zwischen arm und reich wächst Jahr für Jahr – und damit auch die Bereitschaft zur Gewalt. «A Touch of Sin» handelt von Menschen, die sich mit Brutalität gegen ihre Lebensumstände wehren.
Der Film basiert auf wahren Gewalttaten und Verbrechen, die laut Regisseur Jia Zhangke in ganz China bekannt sind. Der Filmemacher hat bewusst vier Ereignisse ausgewählt, die sich in verschiedenen Gegenden Chinas abspielten: Vom kalten Norden über Zentralchina bis zur Südostküste.
Portrait einer verrohenden Gesellschaft
Der Regisseur selbst stammt aus dem Norden, aus Shanxi. Und dort beginnt auch die erste Geschichte in seinem Film: Ein Mann versucht, sich gegen die offen florierende Korruption in seiner Kleinstadt zu wehren.
Er schreibt Briefe nach Peking, er konfrontiert den Fabrikbesitzer vor versammelter Menge. Mit dem Resultat, dass er brutal zusammengeschlagen wird. Desillusioniert greift er zur Schrotflinte und verübt kaltblütige Rache. Dann springt der Film zur nächsten Geschichte an den nächsten Ort.
So reiht sich Geschichte an Geschichte, Schicksal an Schicksal. Alle sind sie miteinander verbunden, sei es durch zufällige Begegnung, durch Gleichzeitigkeit oder ganz einfach durch das gemeinsame Gefühl der Ohnmacht.
Allgegenwärtige Gewalt
«A Touch of Sin» zeigt Messerstechereien, Schlägereien, Schiessereien. Immer wieder ist man Tarantino-mässig unvorbereitet vorbereitet. Man weiss: das kann nicht gutgehen. Man weiss: gleich passiert etwas. Und trotzdem ist man ob der Vehemenz des Gewaltausbruchs schockiert.
Doch der Film zelebriert die Gewalt nicht. Im Gegenteil. Sie ist Mittel für eine subtile, manchmal sogar humorvolle Anklage an ein System, das die Menschen entweder resignieren lässt oder sie an den Rand des Wahnsinns treibt.
Fälle, die ganz China bekannt sind
Dass dieses Werk nicht sofort der Zensur zum Opfer fiel, grenzt an ein Wunder. An der Pressekonferenz des Filmfestivals in Cannes 2013 erklärte Jia Zhangke, dass die in seinem Film porträtierten Fälle in ganz China Schlagzeilen gemacht haben und es deshalb wenig Sinn macht, sie jetzt noch verbergen zu wollen.
Er hoffte damals, dass sein Film noch im folgenden Herbst in China gezeigt werden würde. Doch das ist leider nicht geschehen.
Zu brisant für die Chinesen
Laut einem Artikel des asiatischen Newsportals «The Diplomat» vom 25. November 2013 wurde «A Touch of Sin» in China verboten. Jia Zhangke blieb auch der Preisverleihung der «Golden Horse Awards» (den chinesischen Oscars) fern, obwohl sein Film sechs Mal nominiert war.
Eine Auszeichnung konnte der Regisseur dennoch entgegennehmen: Am letztjährigen Filmfestival in Cannes gewann er für «A Touch of Sin» den Preis für das beste Drehbuch. Und das westliche Publikum. Das darf, kann und sollte sich diesen Film ansehen. Es lohnt sich.