Beim Stichwort Stop-Motion denkt der heutige Kinogänger vor allem an Filmhelden aus Knetmasse für die Masse, zum Beispiel «Shaun das Schaf». Sprich: an liebevoll gestaltetes Kunsthandwerk für die ganze Familie.
Anderes Stichwort, andere Assoziationen: Beim Namen Charlie Kaufman kriegen Liebhaber des US-Independent-Kinos feuchte Hände. Der 56-jährige New Yorker hat die Drehbücher von Kultfilmen wie «Being John Malkovich», «Adaptation» und «Eternal Sunshine of the Spotless Mind» verfasst. Ab und zu führt Kaufman auch Regie, doch einen Stop-Motion-Film hätten wohl nur die wenigsten vom kreativen Wuschelkopf erwartet.
Fantastische Form, lebensnaher Inhalt
Kaufmans Autorschaft ist nicht das einzige, was an «Anomalisa» überrascht. Auch der Look definiert die Grenzen neu, was mit Stop-Motion-Technik erreicht werden kann. Dieser Animationsfilm will anders sein und ist es auch. Realistischer, menschlicher und ganz bestimmt nichts für Kinder.
Im Zentrum des tragikomischen Dramas steht ein Mann in der Sinnkrise: Ein Bestsellerautor, dem es mit seinen Sachbüchern gelingt, andere zu motivieren. Doch sein eigenes Leben erscheint ihm leer. Von seiner Umwelt hat er sich total entfremdet. Mehr noch: Alle anderen Menschen sind für ihn gleichförmig – im Prinzip ein und dieselbe Person. Im psychiatrischen Fachjargon heisst diese wahnhafte Wirklichkeitsverzerrung Fregoli-Syndrom.
Vom Hörspiel zum Crowdfunding-Projekt
Fregoli ist so etwas wie das Schlüsselwort zum tieferen Verständnis von «Anomalisa». Fregoli heisst in Anlehnung an die psychische Krankheit das Hotel, in dem sich fast die gesamte Handlung abspielt. Und Franco Fregoli heisst das Pseudonym, unter dem Charlie Kaufman das Drehbuch verfasste.
Ursprünglich sollte daraus nur ein Hörspiel werden. Erst als das Animationsstudio Starburns Industries ein Crowdfunding-Projekt in Aussicht stellte, kam das Filmprojekt ins Rollen. Angezogen von der damit verbundenen künstlerischen Freiheit ging der New Yorker auf den Deal ein. Rund 400‘000 Dollar kamen durch den Spendenaufruf im Netz zusammen.
Mit diesem Geld machte sich Kaufman gemeinsam mit Co-Regisseur Duke Johnson ans Werk. Als sich die hohe Qualität des Pionierprojekts abzuzeichnen begann, kamen weitere Geldgeber mit an Bord. Erst bei Produktionsende stimmte die Bilanz: ein Budget von 8 Millionen Dollar und eine Einladung des Filmfestivals von Venedig.
Kinostart: 21. Januar 2016