Kurz «Hitchcock» hiess das Büchlein, das 1957 erstmals in Frankreich erschien. Und zwar in der Reihe «Classiques du cinéma» bei den Éditions Universitaires in Paris. Für heutige Leserinnen und Leser ist es durchaus normal, ja sogar zwingend, dass Alfred Hitchcock in eine Reihe über Filmklassiker gehört. Damals war dies anders: Hitchcock galt als Vertreter eines kommerziellen Kinos, das aus den immer grösser werdenden Hollywood-Studios kam. Viele Filmkritiker und Intellektuelle fanden Hitchcock mit seinen Thrillern uninteressant.
Nouvelle Vague und Hitchcock: eine Liebesgeschichte
Junge französische Kritiker hingegen verteidigten den britischen Filmemacher schon früh. Éric Rohmer und Claude Chabrol waren – so erzählt Chabrol in einen Interview aus dem Jahr 2006 im Anhang des Buches – die grössten Hitchcock-Enthusiasten im Umfeld der jungen Nouvelle-Vague-Gruppe, zu der auch François Truffaut gehörte. Dieser schrieb im Jahr 1966 das Standardwerk über den Meisterregisseur: «Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?» – ein langes Interview.
Fast zehn Jahre zuvor aber schrieben Rohmer und Chabrol – noch entgegen dem Geschmack vieler arrivierter Filmkritiker – dieses kleine Büchlein über ihren Lieblingsregisseur. Das erste Buch überhaupt, nachdem sie in der legendären Zeitschrift «Cahiers du cinéma» schon in einigen Artikeln ihren Lieblingsregisseur verteidigt hatten.
Das Buch ist Teil der Filmgeschichte
Dabei ist «Hitchcock» von Rohmer und Chabrol weit mehr als nur das erste Buch über einen der berühmtesten Regisseure aller Zeiten. Es ist ein Werk, das seinen eigenen Platz in der Filmgeschichte hat und haben muss. Sein Erscheinen fällt praktisch zusammen mit der Geburt der Nouvelle Vague in den späten 50er Jahren in Frankreich.
Und das Buch gibt nicht nur Aufschluss über alle 44 Filme, die Hitchcock bis dahin gedreht hatte. Es ist auch wertvolles Zeugnis davon, wie zwei wichtige Vertreter der Nouvelle Vague – Rohmer und Chabrol – selber Filme geschaut, gelesen und analysiert haben.
Die grossen Meisterwerke fehlen noch
Chronologisch nehmen sie sich Hitchcocks Werke vor, von den ersten Stummfilmversuchen aus den 1920er Jahren bis hin zu «The Wrong Man», dem letzten Hitchcock-Film bei Erscheinen des Buches. Den beiden Kritikern ging es vor allem darum, den in ihren Augen grossen Filmemacher vom Verdacht des reinen Kommerzes loszureissen und ihn als Autorenfilmer und grossen Meister der Form zu etablieren. In der Vorbemerkung schreiben sie: «Unsere Methode ist die des Nahebringens: Indem man sich mit seinem Werk vertraut macht, lernt man Hitchcock schätzen und lieben.»
Das Buch liest sich gut. Jeder Film wird zeitlich eingeordnet und sorgfältig, aber immer auch für Nicht-Filmspezialisten gut lesbar, analysiert. Die ganz grossen Werke wie «Vertigo», «North by Northwest», «Psycho» oder «The Birds» waren zum Erscheinungsdatum zwar noch nicht gedreht. Dennoch ist es Éric Rohmer und Claude Chabrol zu verdanken, dass mit diesem allerersten Werk über den grossen Regisseur Alfred Hitchcock dessen Bedeutung für die Filmwelt erst richtig erkannt wurde.
Endlich eine deutsche, erweiterte Fassung
Sendungen zum Thema
- Beitrag zu Truffauts Buch über Hitchcock (BuchZeichen, 10.3.13) Beitrag zu Truffauts Buch über Hitchcock (BuchZeichen, 10.3.13)
- Hintergrund zum Film «Hitchcock» (Box Office, 10.3.13) Hintergrund zum Film «Hitchcock» (Box Office, 10.3.13)
- Beitrag zum Film «Hitchcock» (SRF 4 News aktuell, 14.3.13) Beitrag zum Film «Hitchcock» (SRF 4 News aktuell, 14.3.13)
56 Jahre nun hat das Buch für seine Reise in die deutschsprachigen Buchhandlungen und Bücherregale gebraucht – und es ist auf dieser Reise dicker geworden. Erweitert ist diese deutsche Ausgabe um je ein Interview mit den Verfassern Éric Rohmer und Claude Chabrol. Das ist ein grosses Glück, denn beide Regisseure sind 2010 verstorben.
Im Interview aus dem Jahr 2008 sagt Rohmer über das Buch: «Es fehlt, wenn es nach mir ginge, nur ein Text in diesem Büchlein, nämlich der, den ich im März 1959 über ‹Vertigo› geschrieben habe. Der würde meine Bewunderung für Hitchcock sehr passend abrunden. Mein Wunsch wäre also, dass jede Neuauflage künftig mit diesem Text endet.»
Den Wunsch hat ihm Robert Fischer, Herausgeber der deutschen Erstausgabe, erfüllt und auch diesen Text im Anhang beigefügt. Sehr zum Gewinn für die Leserinnen und Leser.