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Film & Serien «Bäckerei Zürrer» – der erste urbane Film der Schweiz

Kurt Frühs Tragikomödie «Bäckerei Zürrer» von 1957 war der erste Schweizer Film, der das Zusammenleben in einer modernen multikulturellen Gesellschaft thematisierte. Formal neuartig war dabei auch die Bildsprache, mit welcher Kurt Früh den urbanen Raum in Szene setze.

Felix Aeppli

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Felix Aeppli , geb. 1949, ist Historiker und Filmexperte. Er kommentierte die Materialsammlung «Der Schweizer Film 1929-1964» und unterrichtete von 1990 bis 1996 am filmwissenschaftlichen Seminar der Uni Zürich.

«Bäckerei Zürrer» ist der beste Schweizer Film der 1950er-Jahre. Inspiriert vom italienischen Neorealismus gelang Kurt Früh 1957 mit diesem Werk eine meisterliche Inszenierung eines aktuellen Stoffes an Originalschauplätzen.

Als erster Schweizer Regisseur nahm sich Früh der Einwanderer-Problematik an – nicht zornig-aufklärerisch wie später die Regisseure des Neuen Schweizer Films, sondern liebevoll beobachtend. Dies eröffnete den beiden Hauptdarstellern des Films, Emil Hegetschweiler (als Bäckermeister Zürrer) und Ettore Cella (als Marronibrater Pizzani), erst die Möglichkeit zur glanzvollen Interpretation ihrer Rollen.

Die Drehorte rund um die Zürcher Langstrasse bürgten für Authentizität: Hier rollt werktags pausenlos der Verkehr, hier vergnügt sich am Samstagabend die Konsumgesellschaft, und hier betreiben die Kleingewerbler schweizerischer und italienischer Herkunft ihr Geschäft.

Frühs Blick für die Details macht aber auch die Widersprüche der Schweizer Gesellschaft in der Frühphase der Hochkonjunktur sichtbar, den Zwiespalt zwischen Wertkonservatismus einerseits und wirtschaftlichem und gesellschaftliche Aufbruch andererseits. Dabei hatte der Regisseur stets ein Auge für die Aussenseiter: die Clochards aus «Bäckerei Zürrer» kamen 1959 als «Die unheiligen drei Könige» sogar zu einem Hauptauftritt in «Hinter den sieben Gleisen».

Sendeplatz

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«Bäckerei Zürrer» ist Freitagnacht um 00:05 Uhr auf SRF 1 zu sehen.

Nachfolgenden Filmschaffenden diente «Bäckerei Zürrer» wiederholt als Referenzpunkt. «Filou» (Samir und Martin Witz, 1988) war explizit Kurt Früh gewidmet und bot ein postmodernes Versatzspiel mit den Schauplätzen und Topoi des Vorbildes von 1957. Auch «Bingo» (Markus Imboden, 1989) lehnte sich stilistisch an den Klassiker an, obschon diesmal in Farbe gedreht wurde. Und selbst «Strähl» (Manuel Flurin Hendry, 2004), der in Hollywood-Manier auf Action, Zooms und Lichteffekte setzte, bezog bekannte Drehorte von Kurt Frühs Meisterwerk mit ein.

Perspektive und Raum

Eine Frau spricht mit einem Jungen auf der Strasse.
Legende: Urbaner Raum neuartig in Szene gesetzt. SRF

Eine Strassenszene im Zürcher Langstrassenquartier, in der das Leben förmlich pulsiert: Eben ist ein Trolleybus vorbeigefahren, zwei am Strassenrand parkierte Lieferwagen werden von Personenwagen überholt, und auch auf der Gegenfahrbahn herrscht reger Verkehr. Raffiniert wird die Häuserfassade am rechten Bildrand perspektivisch verjüngt, und ebenso gekonnt wird der Bildausschnitt im Hintergrund gegen oben mit Masten und Fahrleitungen der Eisenbahn abgeschlossen.

Im Vordergrund erteilt Gina (Ursula Kopp), die hübsche Tochter des italienischen Gemüsehändlers Pizzani, dem Nachbarsjungen Fredi (Jürg Grau) einen Auftrag: Er soll ihrem Freund Heini Zürrer ausrichten, dass sie ihn um 20 Uhr im Tea Room «Memphis» erwarte. Doch Heini wird nicht erscheinen...

Freizeitgesellschaft und Immigration

Passanen nachts auf der Zürcher Langstrasse.
Legende: Die erste Leuchtreklamen im Schweizer Film. SRF

Leuchtreklamen gibt es in den Schweizer Städten seit den 1930er-Jahren. Regisseur Früh und Kameramann Stilly waren mit die ersten Cineasten, die sie in einem Schweizer Film verwendeten. Die horizontale Neonschrift des Kinos «Roland» leuchtet noch heute in den originalen mattvioletten Farben der 50er-Jahre.

Bei den dokumentarisch erfassten Statisten oder Passanten im Vordergrund dürfte es sich um italienische GastarbeiterInnen handeln, die sich am Samstagabend an der Langstrasse vergnügen. Kamerastandort ist der kleine Platz, der seit 2009 offiziell «Piazza Cella» heisst. Damit wird anhand der Familie des Schauspielers und Regisseurs Ettore Cella (1913-2004) stellvertretend für viele andere Familien an die reiche Geschichte der Immigration im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl erinnert.

Idyllische Ruhe und Hochkonjunktur

Vater und Sohn gehen der Langstrasse entlang.
Legende: Sonntagsidylle an der Langstrasse. SRF

Motorisierter Verkehr war in den 1950er-Jahren praktisch gleichbedeutend mit Fortschritt, und in «Bäckerei Zürrer» zeugen unzählige Fahrzeuge von der aufkommenden Hochkonjunktur. Nicht so in dieser Szene: Am Sonntagvormittag gehörte die Langstrassenunterführung, eine der wichtigsten innerstädtischen Querverbindungen Zürichs, den Fuss- und Kirchgängern. Zwei Mädchen sind in Sonntagstracht unterwegs, dazu ein Vater mit seinen ebenfalls weiss gewandeten Buben. Lediglich zwei Mopeds trüben die idyllische Ruhe, sowie ein Güterzug, der am oberen Rand durchs Bild rollt.

Konditor und Musiker Berger (Fred Tanner) kehrt nach einer langen Nacht nach Hause zurück. Sein Sohn Fredi trägt das Schlagzeug, welches er wenig später zertrümmern wird aus Rache und Enttäuschung darüber, dass sein Vater mit einer deutschen Sängerin ein Verhältnis hat.

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