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Film & Serien Berauschendes aus Afghanistan – jenseits des Dokumentarischen

«The Land of the Enlightened» erregt derzeit am Filmfestival «Visions du Réel» in Nyon viel Aufsehen. Regisseur Pieter-Jan De Pue erzählt über das Leben zweier Jugendbanden in den Bergen Afghanistans. Mit schön inszenierten Bildern und einer frei erfundenen Geschichte. Darf das ein Dokumentarfilmer?

«Ich werde Ihre Tochter heiraten und sie nach Kabul mitnehmen. Hier, dieses Opium ist für Sie». Das sagt Gholam, der Anführer der Jugendbande, zum Vater seiner Angebeteten. Die Geschichte ist stark: Gholam raubt zusammen mit seinen Jungs Schmuggler aus. Sie klauen Edelsteine und Opium. Den ganzen Film lang ist er bemüht, so viel Rauschgift wie möglich zu stehlen, damit er seine Kameradin heiraten kann. Einziger Haken: Wahr ist die Geschichte nicht. Regisseur Pieter-Jan De Pue hat sie erfunden.

Wie stark darf ein Dokfilmer manipulieren?

Hohe Authentizität. Echte Protagonisten. Alles, was geschieht, möglichst exakt abbilden. So würde man die Leitlinien des Dokumentarfilms beschreiben. Doch die Gattungsgrenzen verlaufen fliessend. Einige Regisseure überschreiten sie bewusst, indem sie ganze Szenen inszenieren: Dinge, die sich so abgespielt haben, aber nicht mit der Kamera einfangen wurden. Das nennt man Reenactment.

Aber darf ein Regisseur eine Geschichte frei erfinden, um die Erzählung spannender zu machen? Darf er sich darauf berufen, dass Ähnliches tagtäglich geschieht? Auch wenn sich das Gezeigte nie exakt so zugetragen hat? Ja, aber dann ist es kein waschechter Dokumentarfilm mehr. Diese Mischform aus Spiel- und Dokumentarfilm nennt sich Doku-Drama.

Genre-Mix ohne Transparenz

«The Land of the Enlightened» bedient sich bei beiden Genres: beim Reenactment und beim Doku-Drama. Das Problem ist, dass nie ersichtlich wird, ob eine Szene «echt» ist oder ob sie erfunden und inszeniert wurde. Der Zuschauer ahnt bloss, dass sich nicht alles so abgespielt haben kann. Zum Beispiel wenn eine Szene wie in einem kunstvoll geschnittenen Spielfilm aus diversen Perspektiven gezeigt wird. Oder wenn die Jugendlichen auf ihren Pferden in «Super-Slow-Motion» durch den Schnee reiten.

Das ist schade, weil der Film durchaus auch authentische Momente bietet. Als Zuschauer ziehen diese starken Aufnahmen oft an einem vorbei. Abgelenkt von der brennenden Frage: Ist das nun echt oder nur erfunden? Regisseur Pieter-Jan De Pue hätte sowohl die nachgestellten, als auch die erfundenen Szenen klar als solche erkennbar machen sollen. Zum Beispiel durch Einblender. Das hätte die realen Geschichten gestärkt und die Protagonisten als das gezeigt, was sie sind: Akteure ihres eigenen, wahren Lebens.

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