Das Publikum wusste nicht, wie ihm geschah: 1992 stürmte The KLF die Brit Awards mit einer Lärm-Combo, entfesselte ein Gitarrengewitter und schoss mit einem Maschinengewehr Platzpatronen über die Köpfe der verdutzten Zuschauer.
Kurz darauf verbrannte das Duo in einer Performance eine Million Pfund vor laufender Kamera und löschte sämtliche Aufführungsrechte an seiner Musik – ein grandios inszenierter, künstlerischer Selbstmord auf dem Höhepunkt des Erfolgs.
Der Wikingerchor im Landrover
20 Jahre danach besucht der deutsch-schweizerische Regisseur Stefan Schwietert den schottischen Konzeptkünstler Bill Drummond, die eine, ehemalige Hälfte von The KLF, um dessen neuestes Projekt zu dokumentieren.
Drummond hatte während einer Landrover-Fahrt im Motorenbrummen einen archaischen Wikingerchor gehört. Den will er jetzt nachstellen, und zwar mit Laiensängerinnen und -sängern aus der ganzen Welt. Der 62-jährige Maler und Schriftsteller besucht Fabrikarbeiter, Schulkinder und Nonnen, um sie einzelne Töne vorsingen zu lassen und diese dann zu einem Chor zu schichten.
Den Menschen etwas Eigenes geben
Drummond versteht sein Projekt als Widerstand gegen das Überangebot an Musik und Hintergrundberieselung. In Zeiten, in denen alles vom Netz heruntergeladen werden könne, sehnten sich die Menschen nach etwas Eigenem, sagt der Schotte im Film.
Schwietert zeigt, wie charmant Drummond die Freiwilligen für sein Projekt gewinnt und welche Freude das Gemeinschaftserlebnis auslöst. Das fertige Stück hat Drummond nach einmaligem Hören zwar gelöscht, aber die Menschen sind um eine wertvolle Erfahrung reicher.
Das Geheimnis als Markenzeichen
Natürlich versucht Schwietert auch zu ergründen, ob es bei Drummond nicht doch eine Spur Reue über das plötzliche Karriereende in den 1990ern gibt. Aber dieser kann sehr beredt schweigen, wenn ihm eine definitive Antwort zu banal erscheint. Das dokumentarische Spiel mit Nähe und Distanz funktioniert jedenfalls prächtig mit dem Querkopf, der das Geheimnis als Markenzeichen pflegt.
Auf die Frage, wie ihm der fertige Dokumentarfilm gefalle, antwortete Drummond während seiner Schweizer Promotionstour, er sei geschockt gewesen: «Natürlich wusste ich, dass ich im Film vorkomme, aber ich hatte ihn aus meiner Perspektive erwartet. Stattdessen sieht man ständig mein Gesicht.»
Was raus muss, muss raus
«Imagine Waking Up Tomorrow and All Music Has Disappeared» ist auf trockene Art ein wunderbar inspirierender Film. Stefan Schwietert präsentiert den Pfarrerssohn Drummond mit dem umwerfenden Elan und Sendungsbewusstsein als einen Mann auf Mission, als einen Propheten des Punk. Seine befreiende Botschaft: Mach es selber. Denn was raus muss, muss raus.
Sendebezug: Radio SRF2 Kultur, Kultur kompakt, 5. November 2015, 17.45 Uhr