Ingrid bewegt sich noch sehr unsicher in ihrer neuen Wohnung. Ihr Mann sagt ihr zwar, die Räume seien sehr hoch, aber sie kann sich das nicht wirklich vorstellen. Dabei ist das fast ihre einzige Beschäftigung, seit sie erblindet ist. Sie stellt sich die Orte und Menschen und Dinge vor, die sie früher gesehen hat. Und dann beginnt sie, diese Realität im Kopf zu manipulieren.
Besser inszeniert als alles, was es bisher in dieser Art gab
Ingrid erfindet heimlich Parallelfiguren für sich und ihren Mann Morten. Sie tippt diese Geschichten um die blonde Elin und den einsamen, pornosüchtigen Einar in ihren Laptop. Allein schon diese imaginierten Charakterisierungen – Filmszenen mit Ingrids Offkommentar als Erzählstimme – sind absolut hinreissend. Noch nie habe ich Freiheit und Limiten der Imagination so fliessend gesehen.
Wenn sich Ingrid eine Begegnung ihres Mannes Morten mit ihrer Erfindung Einar vorstellt, sitzen die beiden Männer im Café. Morten erklärt dem anderen, er habe Ingrid geheiratet, aber Kinder hätten sie keine, und jetzt sei das gerade auch nicht ganz einfach. Aber er erzählt Einer nicht, dass Ingrid erblindet ist.
Während die Männer miteinander reden, wechselt der Ort, an dem sie sich befinden. Sitzen sie zunächst im Café am Tisch, befinden sie sich plötzlich im Zug einander gegenüber, oder in der U-Bahn. Morten nimmt einen Schluck Café, aber als er die Tasse wieder auf den Tisch stellen möchte, ist da keiner – für einen Moment – weil er im Zug sitzt. Aber die Bewegung des Arms endet dann doch wieder mit dem Abstellen der Tasse auf dem Kaffeetisch.
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Was ist Vorstellung, was Realität?
Eskil Vogt nutzt die einfachen Möglichkeiten des Kinos mit extremer Eleganz. Ingrids Imagination setzt er sozusagen in Echtzeit um, und dies nicht nur in Szenen, die sie sich vorstellt, sondern auch in ihrem eigenen Erleben.
So wächst in der blinden Frau zunehmend ein Misstrauen gegenber den Aussagen ihres Mannes. Die hohen Räume, die er ihr beschreibt, versucht sie physisch zu ergründen. Sie steht mitten im Zimmer und streckt sich nach der Decke. Ihre Hände bewegen sich nur wenige Millimeter unter der Decke. Aber dann sehen wir die blinde Frau ausgestreckt im Raum stehen, mit mehr als einem Meter Luft über sich. Vorstellung und Realität gehen ineinander über.
Horrorszenarien
Dazu gehört auch die fast zynische Ambivalenz, mit der Ingrid ihre eigenen Ängste und Sehnsüchte in ihre Phantasien einfliessen lässt. Das fängt mit den Internetpornos des Phantasie-Mannes Einar an und geht über in den Sex, den sie zwischen ihrem Mann Morten und Elin imaginiert. Diese lässt Ingrid, quasi als Strafe, prompt erblinden – und macht sie damit noch mehr zum alter Ego.
Die Lieblingshorrorvorstellung Ingrids ist die, dass Morten, der die Wohnung am Morgen verlassen hat, um zur Arbeit zu gehen, heimlich wieder zurückgekommen ist und sie beobachtet. Da sitzt er im Sessel und schaut ihr zu, sie holt eine Schallplatte aus dem Gestell und lässt sie neben ihm fallen. Sie tastet danach, er weicht aus. Sie greift direkt in den Sessel – und der ist leer.
Zwischen Angst und Lust
Der raffinierteste und befreiendste Kniff des Films besteht darin, die Ambivalenz von Angst und Lust perfekt einzubinden. Einerseits die Horrorvorstellung, dass da jemand sitzt und einen beobachtet, gleichzeitig die Lust am Gesehen werden. Gerade von ihrem Mann, der in seiner unendlich geduldigen Rücksichtnahme zum Langweiler geworden ist.
Die Freiheit, welche Ingrid schliesslich findet, alles zu imaginieren, sich masturbierend am Boden vor Morten, die Bestrafung der imaginierten Nebenbuhlerin – und dann die Möglichkeit, das alles auch wieder zurückzunehmen: Das ist die Freiheit des Kinos, welche dieser Film perfekter, subtiler und fantastischer umsetzt, als es eine auch noch so hochgerüstete Special-Effects-Orgie je könnte.